Süddeutsche Zeitung

Pro:Laufen ist eine Philosophie

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Wer läuft, ist anders. Konzentrierter, gesünder - und weiser.

Jochen Temsch

Naja, der Stadtlauf. Die 21 Kilometer sind ja eigentlich etwas für Turnbeutel-Vergesser, wenn man regelmäßig trainiert. Wer nichts dabei findet, mindestens dreimal die Woche jeden Morgen aufzustehen und bei Sonnenaufgang, vor der Arbeit und auf nüchternen Magen seine Lieblingsrunde zu drehen, der geht gelassen an den Start.

Wer auch trainiert, wenn es hagelt, schneit oder mit Windstärke sieben bläst, lächelt milde. Und wer vorher überhaupt nie in den Himmel schaut, sowieso immer rausgeht, weil er es braucht und sonst grantig wird, der gähnt, wenn er sich sonntags neben 16000 andere hollandorange leuchtende Werbe-T-Shirt-Träger stellt, um ein bisschen durch die Stadt zu traben.

Natürlich macht Laufen süchtig. Regelmäßiges Joggen verschafft Erfolgserlebnisse und setzt Endorphine frei. Das Fett schmilzt, das Immunsystem erstarkt, Gelenke werden geschmiert, Blutwerte verbessert. Läufer sind widerstandsfähiger und konzentrierter.

Sie schlafen tiefer, haben belastbarere Knochen, elastischere Gefäße, stärkere Sehnen, ein stabileres Herz-Kreislauf-System und eine lebhaftere Libido - wer danach nicht süchtig wird, muss ein fanatischer Flaneur sein.

Außerdem, um mit Ausdauerjunkie Wigald Boning zu sprechen: "Eine Heroinsucht wäre viel schlimmer als der Wunsch, regelmäßig zu laufen."

Mehr noch: Laufen ist eine Philosophie. Das sagt selbst der Orthopäde, der jetzt wieder viele wehe Knie, malade Sehnen und abtrünnige Bandscheiben von überambitionierten Bürohockern behandeln muss, die es in der Vorbereitung zum Stadtlauf zu heftig angegangen sind. Und nur wirklich weise Männer verstehen die Sisyphos-Qualen von Verletzten, frei nach Albert Camus: "Jeder Splitter dieses Beines bedeutet allein für ihn eine ganze Welt."

Es sind Versuche über das Absurde, wenn man Tag für Tag seine Trainingspläne studiert, lernt, was HFmax und BMI, was Intervalle und Laktat, was Anaerobie und Hyponatriämie bedeuten, wenn man auf den Schweinebraten verzichtet, 200 Arten der Pastazubereitung kennt, Alkohol, niesende Menschen und eine Woche vor dem Wettkampf überhaupt jeden gefährlichen Gang vor die Wohnungstüre meidet - und dann beim Zähneputzen umknickt und nicht starten kann! Laufen ist eine Sucht, eine Philosophie. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

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Quelle:
SZ vom 23./24.06.2007
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