Süddeutsche Zeitung

Pro Familia hilft aus:Sexualkunde als Lebenshilfe

Die allgegenwärtige Pornographie im Internet verunsichert Jugendliche. Wegen des hohen Aufklärungsbedarfs holen Schulen nun Spezialisten von Pro Familia.

Christian Rost

Immer mehr Schulen holen sich bei der Beratungsstelle Pro Familia Hilfe für den Sexualkundeunterricht. Durch die Konfrontation mit Pornographie im Internet werde Kindern und Jugendlichen ein verzerrtes Bild von Sexualität vermittelt, wodurch der Aufklärungsbedarf stark steige, berichtet Pro Familia. Die Nachfrage ist so groß, dass das sexualpädagogische Team mehr Klassen absagen muss, als es besucht. 51 Grundschulklassen blieben deshalb 2008 unversorgt.

Als Pro Familia vor 40 Jahren in München mit der Aufklärung über Sexualität, Familienplanung, Schwangerschaft, Partnerschaft und Erziehung begann, war der freie Verkauf von Verhütungsmitteln noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Inzwischen können selbst Kinder problemlos im Internet Pornobilder und -filme betrachten. Etwa die Hälfte aller Jugendlichen ab 14 Jahren verfüge über einen eigenen freien Web-Zugang, wie die Sozialpädagogen Bettina Niederleitner und Sebastian Kempf am Freitag informierten. Und was die Schüler - nur ein Fünftel der 15-Jährigen hat schon selbst sexuelle Erfahrungen gesammelt - im Netz zu sehen bekämen, verunsichere sie gewaltig.

Während Mainstream-Pornographie noch eher unterhaltend auf sie wirke, vor allem auf die Buben, empfänden 95 Prozent beider Geschlechts die harte Pornographie als angsteinflößend, ekelerregend; sie hinterlasse oft ein Gefühl der Wut. Gerade die herabwürdigenden Behandlungen von Frauen in Pornofilmen bezeichnen die Jugendlichen als "nicht gut".

Schon durch die Fülle des Materials im Netz kommen die meisten Schüler zu der Auffassung, ausgefallene Sexualpraktiken seien weit in der Erwachsenenwelt verbreitet. Wie Sebastian Kempf berichtete, glaubten sie, dass bis zu 60 Prozent der Erwachsenen sado-masochistische Neigungen auslebten. Tatsächlichen seien es Schätzungen zufolge nur etwa fünf Prozent. "Die Jugendlichen tun sich schwer, das einzuordnen", so Kempf.

Die Verunsicherung führe dazu, dass den Mädchen und Buben eine selbstbestimmte Entwicklung der eigenen Sexualität verwehrt wird. Mädchen zum Beispiel fühlten sich nicht mehr frei in der Entscheidung, ob sie Oralverkehr bei ihrem Partner praktizieren sollten, und die Intimrasur "wird zu einem gefühlten Muss", so Bettina Niederleitner. Pornographische Darstellungen prägen das Sexualbild der Jugendlichen nachhaltig: "Nur was glatt, perfekt und beherrschbar ist, ist akzeptabel", so Niederleitner.

Die meisten Eltern sind einverstanden

Mit ihren Kollegen besucht die Sozialpädagogin bis zu 75 Schulklassen und Jugendgruppen im Jahr, um deren Fragen zu beantworten. In die Schulen kommen jeweils eine Frau und ein Mann zum Arbeiten in geschlechtergetrennten Gruppen auf Bitten der Lehrkräfte und nach einer Vorabinformation der Eltern, die meist auch einverstanden seien. Lediglich mit christlich-fundamentalistisch eingestellten Eltern gebe es Probleme. Mit Muslimen, die oft froh darüber seien, das heikle Thema abgenommen zu bekommen, hingegen nicht.

Die Lehrer selbst stehen den Schülern oft zu nahe, um mit ihnen sensible intime Fragen besprechen zu können. Die Pro-Familia-Pädagogen hingegen unterliegen einer Schweigepflicht. Weil die Beratungsstelle nicht alle Anfragen von Schulen berücksichtigen kann, werden auch spezielle Lehrerfortbildungen und Elternkurse zu dem Thema angeboten. Die Eltern erfahren dort, dass, wenn sie bei ihren Kindern Pornobilder oder -filme finden, Sanktionen wie Internetsperren nutzlos sind.

Die Jugendlichen fänden leicht Wege, diese zu umgehen, so Kempf. Außerdem kursierten die Bilder auch auf Handys im Schulhof. Den drei besorgten Vätern, die zuletzt bei ihren Söhnen fündig geworden sind und die sich an Pro Familia gewandt hatten, riet Kempf zum Gespräch. "Die beste Sexualerziehung ist ein offenes Ohr."

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SZ vom 25.07.2009/dab
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