Private Führung:Ferne Länder ganz nah

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Vom Leben und der Kultur ihrer früheren Heimat Afghanistan erzählt Gulalai Ghauss bei einem Abend in ihrem Wohnzimmer ihren Gästen. (Foto: Robert Haas)

Das Projekt "Weltreise durch Wohnzimmer" ist nun auch in München gestartet. Zugezogene mit ausländischen Wurzeln öffnen ihr Zuhause und erzählen einen Abend lang von ihrer früheren Heimat

Von Nadja Tausche

Der Winter hat sich verändert, auch in Afghanistan. Früher habe es Schnee gegeben, sagt Gulalai Ghauss, aber jetzt ein paar Jahre lang nicht mehr: "Weil bei uns so viele Bomben und Raketen explodieren, das hat das Wetter schlecht gemacht." Ghauss, 40, sitzt in ihrem Wohnzimmer im Westend, ihre Gäste hören gebannt zu. Seit 1993 lebt die Afghanin in München, an diesem Abend will sie den Menschen hier ihre Kultur näherbringen.

Dafür hat sie sich beim Projekt "Weltreise durch Wohnzimmer" angemeldet. Die Idee: Menschen mit ausländischen Wurzeln öffnen für einen Abend ihre Wohnung und erzählen über die Kultur in ihrem Land und über ihr Leben. Seit Anfang dieses Jahres gibt es das Projekt in München. "Wir wollen, dass sich Zugezogene in München zu Hause fühlen - und dazu gehört, Gäste einzuladen", sagt Renate Volk von der Freiwilligen-Agentur Tatendrang, die das Angebot organisiert. Die Gäste von Gulalai Ghauss sitzen unter einem goldenen Schriftzug an der weißen Wand. Er bedeutet "Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen". Beige Sofas, ein Tisch, in der Ecke ein Flachbildfernseher. Es gibt viel zu essen, darunter Pakaura: gefüllte Teigtaschen, sie schmecken nach Hackfleisch und sind nur ein klein wenig scharf. Weil sie wisse, deutsches Essen sei nicht scharf, sagt Ghauss. In der Wasserkaraffe schwimmt Zitronenmelisse, auf dem Gebäckteller liegen zwei echte rote Rosen. Ghauss hat sich vorbereitet für diesen Abend. Auf dem Kopf trägt sie ein grünes Tuch, es rutscht ihr immer wieder in den Nacken, während sie erzählt. Sie komme aus Kabul, 1993 hat Gulalai Ghauss das Land verlassen. Seitdem wohnt sie mit ihrem Sohn in München, drei Mal war sie dann noch in Afghanistan: Sie hat ein Buch geschrieben über Frauenrechte und wollte wissen, was dort aktuell passiert. "Dürfen Frauen arbeiten?", fragt Mona, sie ist 23. In Großstädten ja, sagt Ghauss, meistens seien sie aber nur in Berufen wie Lehrerin oder Sekretärin tätig.

Mona ist eine von elf Teilnehmern, die zur Veranstaltung "Reise nach Afghanistan" gekommen sind. Zehn Frauen sind dabei und ein Mann. Unter ihnen sind eine Sportstudentin, eine Juristin, zwei Beschäftigte aus dem Medienbereich. Warum sie alle hier sind, hat ähnliche Gründe: Um die Kultur kennenzulernen, viele reisen gerne. "Man würde so jemanden sonst nie treffen, und nie so direkt fragen", sagt Katharina. Und Thilo fügt einen anderen Aspekt hinzu: "Es ist interessant, was man über Deutschland lernt. Land der Freiheit - das würde man hier so nie sagen. Da merkt man, wie wertvoll das ist."

Dass Leute verschiedener Kulturen miteinander ins Gespräch kommen, war das Ziel von Catrin Geldmacher. Sie hat "Weltreise durch Wohnzimmer" 2011 gegründet. Als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache kam ihr die Idee, als sie einmal bei Schülern aus dem Irak zu Hause zu Besuch war. "Als ich wegging, fühlte ich mich so bereichert. Ich dachte, wenn das andere auch erfahren dürften, könnte viel Gutes daraus werden", sagt sie. Geldmacher startete das Projekt in Rheda-Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen, mittlerweile ist sie Vereinsvorsitzende und hat etwa 20 ehrenamtliche Mitarbeiter. Die Reisen gibt es zum Beispiel in Heilbronn, Münster, Gundelfingen. Dort hat der Verein, wie jetzt auch in München, Kooperationspartner, die das Projekt eigenständig durchführen.

Wer eine der Veranstaltungen in München besuchen will, füllt davor bei Tatendrang ein Kontaktformular aus. Von dem Preis von zehn Euro geht ein Teil an die ehrenamtlichen "Reisebegleiter" und der Gastgeber bekommt 30 bis 50 Euro - je nach Größe der Gruppe. Es könne theoretisch schon sein, dass mal ein Neonazi in der Gruppe dabei ist, sagt Renate Volk von Tatendrang. Bei jeder Veranstaltung sei aber ein Ehrenamtlicher dabei, der könne dann einschreiten.

Das ist bei der "Reise nach Afghanistan" nicht nötig. Omid, der Sohn von Ghauss, zeigt Videos auf Youtube, er ist 15 und spricht akzentfreies Deutsch. Schneebedeckte Berge, eine schnurgerade Straße, goldene Kronen. "Afghanistan is beautiful", heißt das Video. Aber nicht alles ist wunderbar dort. Als Wahlen waren und Frauen Farbe an den Fingern hatten, erzählt Ghauss, wurden ihnen die Finger abgeschnitten. Die Wahltinte soll eigentlich verhindern, dass jemand zwei Mal wählt - sie zeigt aber eben auch, welche Frauen ihre Stimme abgegeben haben. Und das gefalle den Taliban nicht, sagt Ghauss, obwohl Frauen in Afghanistan theoretisch wählen dürfen. "Taliban und IS gehören überhaupt nicht zu uns." Sie würden den Islam politisch missbrauchen.

An diesem Abend soll die Politik außen vor bleiben. "Ich will, dass sich die Leute ohne Politik treffen, nur als Menschen", sagt sie. Sie will auch die Seiten ihres Landes vermitteln, die nicht in deutschen Nachrichten zu sehen sind. Zum Schluss reicht ihr jeder Teilnehmer noch einen Pass zum Abstempeln. Von jedem Wohnzimmer kehren die Besucher mit einem neuen Stempel nach Hause zurück.

© SZ vom 28.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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