Kritik:Totale Überforderung

Kritik: Ungleiche Schwestern: Stephanie Leue als Alice und Julia Bartolome als Jenny (klein im Vordergrund).

Ungleiche Schwestern: Stephanie Leue als Alice und Julia Bartolome als Jenny (klein im Vordergrund).

(Foto: Konrad Fersterer)

Dialog-Ping-Pong und britischer Humor: Die Inszenierung von "Moskitos" am Staatstheater Nürnberg erzählt von unserem Verhältnis zur Wissenschaft und von Menschen, die nicht zueinander finden.

Von Florian Welle, Nürnberg

Am Anfang steht eine Schwangerschaft. Die von Panikattacken geplagte Jenny hat ihre ältere Schwester Alice nach England kommen lassen. Ungleicher könnten die Geschwister, Ende 30 die eine, Anfang 40 die andere, nicht sein. Hier die rauchende, trinkende, fluchende Jenny, die am Telefon Versicherungen vertickt. Dort die brillante, karrierefixierte Physikerin Alice, die am Cern, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf, arbeitet und kurz vor der Entdeckung des Higgs-Boson steht, einem Elementarteilchen und wichtigem Puzzlestein bei der Entschlüsselung universeller Gesetzmäßigkeiten.

Der Clash ist vorprogrammiert. Jenny lehnt jede Vorsorge ab, worüber Alice nur den Kopf schütteln kann. Später wird sie ihre Schwester eine "bescheuerte Kuh" nennen, die "alles glaubt, was sie im Internet liest". Da mischt Jenny schon das Leben von Alice und ihrem pubertär verdrucksten Sohn Luke in Genf auf, wo sie nach dem Tod ihres Babys verzweifelt aufgeschlagen ist: Sie hatte sich geweigert, ihre Tochter gegen Masern impfen zu lassen.

Wer jetzt aber vermutet, dass Lucy Kirkwood mit "Moskitos", das gerade am Nürnberger Staatstheater in der Regie von Bérénice Hebenstreit Premiere hatte, den Umgang mit Pandemie, Impfbefürwortern und -gegnern, verarbeitet hat, der irrt. Das Stück stammt von 2017. Die britische Dramatikerin lotet darin unser Verhältnis zur Wissenschaft im Allgemeinen aus, als Motto dient ihr ein Zitat von Thomas Pynchon: "Seit Langem ist die Allgemeinheit in zwei Teile gespalten: in jenen, der glaubt, dass die Wissenschaft alles erreichen kann, und jenen, der genau das fürchtet."

"Moskitos" fragt, was wir Laien überhaupt noch verstehen können. "Wer ist hier zuständig?", fragt einmal Jenny und deutet auf ihren Bauch. Will sagen: die Mutter oder die Ärzte? Es ist ein Stück über Überforderung und Kontrollverlust, in dem Rationalität und Irrationalität aufeinanderprallen. Eine unerbittliche Versuchsanordnung, die Kirkwood in ein Well-made play verpackt hat, ein Genre, das hierzulande kaum gepflegt wird: Große Themen treffen auf das alltägliche Leben, Tragik und Komik gehen ineinander über, und die Charaktere erleben ein Wechselbad der Gefühle.

Selbst das Higgs-Boson hat hier seinen Bühnenauftritt

In "Moskitos" reihen sich die rasiermesserscharfen Wortgefechte nur so aneinander. Selten, dass einmal drei Personen auf der Bühne stehen, alle sieben zusammen: nie. Dementsprechend karg haben Hebenstreit und ihr Team inszeniert. Man wird hier nicht überwältigt und verzaubert, vielmehr bieten die Schauspieler, allen voran das wunderbare Duo Julia Bartolome und Stephanie Leue als naive Jenny und nüchterne Alice, drei Stunden lang pointiertes Dialog-Ping-Pong, das eine beträchtliche Fallhöhe aufweist: Der Humor ist very british, sogar das Higgs-Boson hat in der Gestalt des Schauspielers Thomas Nunner seinen Auftritt. Man darf lachen, benötigt aber auch Konzentration, vor allem gegen Ende, als alle Konflikte offen liegen, beginnt es, langatmig zu werden.

Zwei hintereinander gestaffelte Gazevorhänge trennen den hinteren Bühnenteil ab, davor stehen entweder Klappstühle oder ein senfgelbes Sofa. Wenn sich aber mal die Vorhänge heben, was selten genug passiert, geben sie den Blick frei auf einen aufgelassenen Bühnenboden, über den ein Steg führt. Das kratergroße Loch deutet das Cern an, kann aber genauso gut ein Schwarzes Loch symbolisieren.

Dieses ist allerdings weniger astronomisch zu verstehen als vielmehr als Loch in der Seele. Jeder hier hat es. Neben Jenny, Alice und Luke auch Jennys und Alices Mutter Karen mit beginnender Demenz sowie Lukes einzige Bekannte Natalie. Alle sehnen sich nach Zuneigung und Verständnis, doch immer, wenn sie einander näher kommen, schlägt die Situation ins Gegenteil um, setzt es den nächsten verbalen Tiefschlag. Eine kalte Welt.

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