Premiere:Das Geheimnis um die Locken

München ist im Jonas-Kaufmann-Fieber und diskutiert bei der Otello-Premiere vor allem über das Starhaar

Von Rudolf Neumaier

Premiere: Verhaltenen Schlussapplaus gibt es für Gerald Finley, Jonas Kaufmann und Anja Harteros bei der Premiere von Verdis Otello.

Verhaltenen Schlussapplaus gibt es für Gerald Finley, Jonas Kaufmann und Anja Harteros bei der Premiere von Verdis Otello.

(Foto: Robert Haas)

Wenn von Liverpool die Beatlemania ausging, dann gibt es in München eine Jonaskaufmania. Auf der Treppe vor dem Nationaltheater stehen die Kartensucher Spalier, und allein ihre flehenden Blicken sagen: Dieser Abend muss etwas ganz, ganz Besonderes sein. Verdi, Otello. Der Münchner Jonas Kaufmann in der Titelpartie! Jonas! Kaufmann!! Unser Welttenor!!! Otello. Mit Anja Harteros als Desdemona!! Keine Frage, das ist die Münchner Premiere des Jahres. Mindestens.

Wer vorher beim Kartenverkauf der Staatsoper nachfragte, hat die Auskunft erhalten: "Tut uns leid. So groß wie diesmal war der Andrang noch nie." Auch die Zahl der Opernfans, die in der Kälte Zettel mit der Aufschrift "Suche Karte" in die Höhe halten, ist rekordverdächtig. An die dreißig sind es, manche platzieren sich in der Tiefgarage. Sicher wäre es einträglich, auf dem Max-Joseph-Platz einen Stand mit Jonas-Kaufmann-Fanartikeln aufzustellen. Jonas-Tassen, Jonas-Lutschpastillen für die Stimme, Jonas-Perücken als naturgetreue Nachbildungen des prächtigen Lockenhaupthaares, solche Sachen. Man könnte sich ums Eck bei Schuhbeck inspirieren lassen.

Jetzt aber erst mal Otello. Ein Kaufmann-Fan hat auf der Treppe tausend Euro für eine Karte gezahlt, um hineinzukommen, berichtet ein anderer Kaufmann-Fan, der schon im Vorverkauf erfolgreich war. Der Verkäufer wird sich gewiss einen schönen Abend gemacht haben. Um zu erfahren, ob und war er künstlerisch versäumte, muss er nun nachlesen. Sollte er ebenfalls Kaufmann-Fan sein, ist ihm jedenfalls ein gehöriger Schock erspart geblieben. Denn Kaufmann alias Otello ist mit sehr kurzen Haaren auf die Bühne gekommen. In der Pause ist beim flanierenden Auditorium ungläubige Beklommenheit spürbar.

Die Diskussionen drehen sich um das Starhaar: Er wird doch nicht für den Otello tatsächlich seine schönen Locken abgeschnitten haben! Wetten werden abgeschlossen, Perücke gegen Naturhaar. Kaufmanns optische Erscheinung wirkt sich nicht gerade positiv auf das Urteil des Publikums über seine sängerische Darbietung aus. Das Auge hört mit? Gemessen an den Erwartungen der Operngemeinde an diese Otello-Produktion fällt der Schlussapplaus durchschnittlich aus. Durch und durch freundlich zwar. Doch wenn ein musikalisches Weltereignis erwartet wird, ernüchtert ein typisch Münchner Allerwelts-Premierenbeifall.

Solche Opernpremieren bieten Politikern die beste Gelegenheit, sich als Kulturfreund zu präsentieren. Zumal Kunstpolitikern, zumal Kunstministern. Im neuen Kabinett hat nun aber erstmals seit der Ausrufung des Freistaats vor hundert Jahren ein Politiker die Spitze des fraglichen Ministeriums erklommen, der aus dem nach Münchner Maßstäben unkultivierten Niederbayern kommt. Und als wollte er den Argwohn der Opernsociety schüren, lässt sich Bernd Sibler, ein Mann aus Plattling, nicht blicken. Doch einer seiner Vorgänger ist da, wie immer: Wolfgang Heubisch, längst Premiereninventar in der Staatsoper. Er fasst auf der Premierenfeier bei einer kleinen Portion Leberkäse mit Kartoffelsalat zusammen, wie er und viele andere Besucher diesen Abend wahrgenommen haben: "Musikalisch super. Kirill Petrenko und das Orchester - absolute Spitzenklasse! Aber, tut mir leid, der Funke ist heute nicht übergesprungen."

Ja, der Funke, wo ist er verglüht? Der erhoffte und erwartete Opernsensationsabend ist allzu gewöhnlich ausgegangen. Die Premierenfeier im Souterrain der Staatsoper, dem sogenannten Dallmayr-Foyer, nimmt dann aber außergewöhnliche Formen an. Außergewöhnlich karge. Staatsintendant Nikolaus Bachler kommt und geht gleich wieder - ein Termin am nächsten Morgen irgendwo in England. Generalmusikdirektor Kirill Petrenko kommt nicht. Anja Harteros auch nicht.

Aber die Regisseurin Amélie Niermeyer und Gerald Finley feiern mit ihrem Tross. Der Bariton Finley, ein grundsympathischer Kanadier, hat als Jago gerade Otello (Kaufmann) erledigt und sagt, er sei ergriffen von der Resonanz. "In diesem Haus haben die Stars meiner Jugend gesungen, Christa Ludwig, Fischer-Dieskau", sagt er, "ich klopfe gegen die Wände, um mir klarzumachen, dass ich hier singen darf." Und Frau Niermeyer verrät, dass sie bei Kaufmann sogar eine Bühnenglatze ausprobiert habe. War unvorteilhaft.

Aber all das ist den Kaufmann-Ultras, die sich in die Feier geschlichen haben, jetzt gleichgültig. Sie wollen wissen, was mit seinen Haaren passiert ist. Sie wollen ihn sehen. Es kursieren Gerüchte. Kaufmann müsse bei einer Feier von Sponsoren repräsentieren, wird kolportiert. Dann heißt es, Hunger habe ihn in ein benachbartes Grilllokal getrieben - was wiederum die Frage aufwirft, weshalb ihm der vorzügliche Premierenleberkäse nicht behagen könnte. Aber was ist jetzt mit seinen zauberhaften Naturlocken? Frau Niermeyer genießt ihre Premierenbrotzeit. Sie schwört: "Er hat sie noch." Er hat mit Kurzhaar-Perücke gesungen.

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