Prävention:Was die Bahn gegen Terroranschläge tun kann

Terrorwarnung an Silvester am Münchner Hauptbahnhof, 2015

Nüchtern betrachtet, ist auch die Gefahr von Anschlägen auf Bahnhöfe und Züge nichts anderes als ein komplexes System.

(Foto: Stephan Rumpf)

Stefan Pickl analysiert an der Universität der Bundeswehr in München Attentate auf Züge und Bahnhöfe aus den vergangenen 20 Jahren - und sucht nach Präventionsmöglichkeiten.

Von Jakob Wetzel

Eine Terrordrohung gegen Münchens Hauptbahnhof? Dass ausgerechnet hier an Silvester die große Angst ausbrechen würde, konnte Stefan Pickl natürlich nicht vorhersagen. Aber dass es einen großen Bahnhof trifft, das hat ihn nicht unbedingt überrascht. Er will keine Angst schüren, aber ein Bahnhof ist ein ebenso empfindlicher wie unübersichtlicher Ort: in diesem Fall ein Verkehrsknotenpunkt, der nicht nur für München, sondern auch für den Fernverkehr wichtig ist, an dem Tag für Tag Hunderttausende Menschen kreuz und quer durcheinanderlaufen - und der noch dazu schwer zu bewachen ist.

Reisende kommen und gehen, Zugangskontrollen gibt es keine, Personenkontrollen kaum, bei derart vielen Menschen geht es gar nicht anders. Doch das alles macht Bahnhöfe für Pickl erst recht interessant.

Worum es bei Pickls Arbeit geht

Der 48-Jährige ist Professor für "Operations Research" an der Universität der Bundeswehr München. Das heißt, vereinfacht gesagt: Er versucht, komplexe Systeme berechenbar zu machen, ohne sie dabei zu vereinfachen. Und wenn man sie nüchtern betrachtet, dann sind auch Terrordrohungen, dann ist auch die Gefahr von Anschlägen auf Bahnhöfe und Züge nichts anderes als ein komplexes System.

Pickl koordiniert das Projekt "Rikov" - das Kurzwort steht für den sperrigen Titel "Risiken und Kosten der terroristischen Bedrohungen des schienengebundenen öffentlichen Personenverkehrs". Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt. Neben Pickl und seinem Team forschen daran auch die Technische Hochschule Köln, das Karlsruher Institut für Technologie und der Konzern EADS.

Seit gut drei Jahren analysieren sie Terroranschläge aus den vergangenen beiden Jahrzehnten, suchen nach wiederkehrenden Mustern - und nach Abhilfe. In Teilen gleicht die Forschung einem Rollenspiel: Die Wissenschaftler nehmen die Perspektive von Terroristen ein, sie spielen mögliche Angriffe durch und überlegen dann, wie sich diese verhindern ließen. Und sie fragen, wie ein System wie der Bahnverkehr beschaffen sein muss, damit es sich nach einem Anschlag möglichst gut aufrechterhalten lässt.

Was das Ziel von "Rikov" ist

Ziel ist ein Gesamtmodell, das sich auch wirtschaftlich rechnen soll: Mit ihm soll etwa die Bahn nicht nur die tatsächliche Gefahr berechnen, sondern auch Anschlägen vorbeugen und die eigene Anfälligkeit mindern können - und im Ernstfall soll ihr das Modell als Entscheidungshilfe dienen. Um die Ideen zu erproben, kooperieren die Forscher unter anderem mit Bahn und Bundespolizei sowie mit den Kölner Verkehrs-Betrieben und der Münchner Verkehrsgesellschaft MVG.

Für ein Folgeprojekt ist bereits eine Kooperation mit der französischen Staatsbahn vereinbart, also eine Weiterentwicklung im Netz des TGV. Die Projektpartner sind eng in die Forschung eingebunden. "Sie geben uns Daten, wir machen Lösungsvorschläge und lassen diese wiederum von ihnen bewerten", sagt Pickl. Die ersten Erkenntnisse seien "auf dem Weg in den Praxistest".

Was den Risiken vorbeugen könnte

Prävention: Wenn aus Wissenschaft plötzlich Wirklichkeit wird: Stefan Pickl erforscht, wie man komplexe Systeme berechenbar machen kann.

Wenn aus Wissenschaft plötzlich Wirklichkeit wird: Stefan Pickl erforscht, wie man komplexe Systeme berechenbar machen kann.

(Foto: Stephan Rumpf)

Was das genau heißt? Das ist eine heikle Frage, denn natürlich geht es dabei auch um Überwachung. Pickl lädt in sein kleines Büro auf dem Campus der Universität in Neubiberg. Er spricht schnell; sein halbes Leben lang hat er sich mit komplizierten Systemen auseinandergesetzt. In Darmstadt und Köln hat er Elektrotechnik, Mathematik und Philosophie studiert.

Nicht ohne Stolz erzählt er, dass er als erster Mathematiker ein Konfliktmodell für den Emissionshandel von Treibhausgasen entwickelt habe, das war damals in Köln. Umgesetzt worden ist es freilich nicht, der Algorithmus war optimiert für das Problem, nicht für politische Interessen.

Bei "Rikov" ist das anders. Die Projektpartner sind in die Entwicklung eingebunden. Bei mehreren Übungen ermitteln die Forscher, ob sich ihre Erkenntnisse in der Praxis bewähren. Und die rechtliche und die politische Seite haben Pickl und seine Partner ohnehin längst im Blick. Sie arbeiten interdisziplinär: Sie fragen nicht nur, wie und zu welchem Preis Sicherheit technisch herstellbar sein könnte. Sie interessieren sich auch für das Verhältnis von Kosten und Nutzen - und dafür, was gesetzlich erlaubt und gesellschaftlich akzeptiert ist.

In anderen Ländern gebe es etwa Versuche mit Metalldetektoren in Zugtüren oder mit Wärmekameras, sagt Pickl. Die Idee ist: Wer einen Anschlag plant, der schwitzt, und das ist messbar. "Grundsätzlich geht es dabei um eine vorgeschaltete Automatisierung." Ein Rechner scannt die Menschen, und wo er ein Muster findet, schlägt er Alarm. Ein Mitarbeiter nimmt die betreffende Person daraufhin unter die Lupe.

Warum die Arbeit einem Wettlauf gleicht

Viel mehr ins Detail geht Pickl nicht; er spricht zwar gerne über sein Projekt, nicht aber über die Einzelheiten. "Unsagbar" seien die: "Wir müssen davon ausgehen, dass jemand, der uns schaden will, vergleichbare Überlegungen anstellt." Sobald der aber wisse, womit sich beispielsweise ein Bahnhof schützt, könne er sich darauf einstellen - und der Schutz laufe womöglich ins Leere. Aus diesem Grund gleicht "Rikov" einem Wettlauf: Es gehe um Antizipation, sagt Pickl. "Wenn es überhaupt eine optimale Lösung gibt, dann ist sie nur so lange optimal, bis sie ein anderer auch kennt." Man müsse dem Gegner immer einen Schritt voraus sein.

Darin, einen Schritt voraus zu sein, hat Pickl Erfahrung. Schon vor den Anschlägen jüngst in Paris sprach er etwa von der Gefahr "multipolarer" Angriffe, also paralleler Anschläge an mehreren Orten. Und im Jahr 2010, erzählt er, habe er wenige Wochen vor der Loveparade in Duisburg mit den Teilnehmern einer Schulung über die dort geplante Ein- und Ausgangssituation diskutiert.

Der Professor sah ein Problem, nicht alle wollten ihm damals folgen. Wenig später kam es zur Katastrophe. Auch das Projekt "Rikov" läuft bereits seit Jahren. Mittlerweile hat die Aktualität die Forschung eingeholt - doch als das Projekt begann, habe er Skeptikern durchaus erklären müssen, warum es überhaupt relevant sei, sagt Pickl. Es liegt an seinem Job: Er berechnet Risiken, denkt also an Gefahren, die zwar real, aber nicht akut sind.

Woher das Fach überhaupt kommt

Professor für "Operations Research" ist er seit 2005; in Neubiberg gehört das Fach zur Fakultät für Informatik, und auch wenn die Bundeswehr-Universität zivile Forschung betreibt, passt die Disziplin gut hierher. Denn ihre Ursprünge liegen im Militärischen. "Das Fach ist im Zweiten Weltkrieg entstanden", erklärt Pickl. Das britische Militär habe nach Wegen gesucht, um Konvois vor Hinterhalten zu schützen. Deshalb hätten die Soldaten analysiert, wie diese überhaupt angegriffen werden könnten - und wie sich das vermeiden ließe.

Entwickelt hat sich aus diesen eher taktischen Überlegungen eine zunehmend komplexe Wissenschaft, schon deswegen, weil die Akteure vielfältiger und ihre Zahl unüberschaubar geworden ist. "Es gibt nicht mehr nur Rot- und Blauland wie in militärischen Planspielen früher", sagt Pickl. Zivil und militärisch ließen sich nicht mehr ohne Weiteres voneinander trennen. Die Welt ist weniger berechenbar geworden. Der Forscher nimmt es als Herausforderung.

Überzogene Erwartungen will er aber nicht wecken. "Wir können keine paradiesische Sicherheit herstellen", sagt Pickl. Als Forscher könnten sie ja ohnehin nur Impulse geben. Und die Politik müsse abwägen: Was erhöht effektiv die Sicherheit und ist dabei für den Einzelnen noch vertretbar, was geht zu weit? Man könne zumindest versuchen, in die richtige Richtung zu steuern, sagt Pickl. Eine Restgefahr müsse man dann einfach in Kauf nehmen.

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