Süddeutsche Zeitung

Prävention sexueller Gewalt:"Die Schulen sind überfordert"

Der Münchner Verein Amyna engagiert sich seit 20 Jahren für die Prävention sexueller Gewalt. Ein Gespräch über Defizite in sozialen und schulischen Einrichtungen und wie Eltern ihre Kinder schützen können.

Franziska Seng

Christine Rudolf-Jilg arbeitet als Sozialpädagogin für Amyna e.V. Ein Gespräch über Defizite in sozialen und pädagogischen Einrichtungen und wie Eltern ihre Kinder schützen können.

sueddeutsche.de: Frau Rudolf-Jilg, wie kommt es, dass in den vergangenen Monaten so viele Missbrauchsopfer den Mut fanden, um von den an ihnen verübten Übergriffen zu sprechen?

Christine Rudolf-Jilg: Ein Grund ist sicherlich der Aufruf des Leiters des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes. Er hatte, nachdem er von Missbrauchsfällen in seiner Einrichtung gehört hatte, die Opfer dazu ermutigt, sich zu melden. Außerdem versprach er, dass man den Opfern Glauben und Gehör schenken würde. Das war ein wichtiges Signal. Vor allem bei Kindern wissen wir, dass sie diese Versicherung, ihnen zu glauben und sie zu unterstützen, benötigen, um über Missbrauchsfälle zu sprechen.

sueddeutsche.de: Wurde denn in der Vergangenheit die Glaubwürdigkeit von Opfern angezweifelt?

Rudolf-Jilg: Manchmal leiden Opfer auch später noch so sehr unter den Misshandlungen, dass ihr Leben nicht unbedingt in geraden Bahnen verläuft. Sie können zum Beispiel Probleme mit Drogen haben oder keine stabile Beziehung führen, und das kann wiederum verwendet werden, um ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Aber nach dem Aufruf von Pater Mertes meldeten sich plötzlich so viele Betroffene, dass man die Vorwürfe nicht mehr kleinreden konnte. Selbst wenn hohe Würdenträger und angesehene Persönlichkeiten beschuldigt wurden.

sueddeutsche.de: Wie wirken sich diese Enthüllungen auf Ihre Arbeit bei Amyna e.V. aus?

Rudolf-Jilg: Seit März ist die Anzahl der Anfragen deutlich gestiegen, etwa um 30 Prozent. Vertreter von Einrichtungen wollen sich informieren, wie man diese sicherer für Kinder und Jugendliche machen kann. Eigentlich sind wir nur für München zuständig, aber mittlerweile melden sich auch Einrichtungen vom Bodensee oder Garmisch-Partenkirchen.

sueddeutsche.de: Sie haben sich bei Amyna die Prävention sexueller Gewalt zum Ziel gesetzt. Wo setzen Sie mit Ihrer Arbeit konkret an?

Rudolf-Jilg: Wir beraten keine Opfer, sondern vermitteln Erwachsenen zum Beispiel, wie Täter vorgehen, welche Konstellationen sexuelle Gewalt begünstigen, etwa die besondere Nähe von Aufsichtspersonal und Schutzbefohlenen in pädagogischen oder sozialen Einrichtungen. In Schulungen informieren wir Erzieherinnen und Erzieher darüber, welche Vorkehrungen man treffen kann, um das Risiko sexueller Übergriffe zu minimieren. Etwa, worauf man bei der Einstellung von neuem Personal achten soll oder welche Vorkehrungen getroffen werden können, damit die Kinder beim Mittagsschlaf sicher vor dem Missbrauch durch Mitarbeiter sind. Oder wie im konkreten Verdachtsfall am besten vorzugehen ist.

sueddeutsche.de: Wird dieses Wissen dem Personal nicht während seiner Ausbildung bereits vermittelt?

Rudolf-Jilg: Nein, leider spielt das bislang kaum eine Rolle. Durch die aktuellen Ereignisse ist die Problematik zum ersten Mal ins Blickfeld von Einrichtungsleitern und Personal gerückt. Ohne geschultes Personal passiert, was in der Vergangenheit leider sehr oft geschehen ist. Kinder wenden sich nach einem Übergriff an Erwachsene, stoßen bei diesen jedoch auf Inkompetenz, Überforderung und Panik. Im schlimmsten Fall versandet die Angelegenheit und den Vorwürfen wird nicht nachgegangen.

sueddeutsche.de: Wie kann man dem abhelfen?

Rudolf-Jilg: Wir beraten Einrichtungen zum Beispiel, wie sie für den Verdachtsfall einen konkreten Notfallplan erarbeiten können. Der einzelne Mitarbeiter ist alleine oft überfordert: Wem melde ich den Verdacht, wann sollen die Eltern und externe Ermittler informiert werden? Verhalte ich mich unloyal gegenüber dem verdächtigten Kollegen, der bisher ein tadelloser Mitarbeiter oder sogar Vorgesetzter war? Gefährde ich womöglich meine Stelle? Um diese Faktoren auszuschalten, hilft leider nur ein standardisierter Plan. Momentan gehe ich davon aus, dass nur bei circa dreien von einhundert Einrichtungen ein solcher Plan vorhanden ist.

sueddeutsche.de: Aber nun wächst das Bewusstsein für die Problematik.

Rudolf-Jilg: Das bayerische Kultusministerium hat kürzlich ein Rundschreiben an Schulen verschickt. Die Schulen sind fortan verpflichtet, eine Liste mit Beratungsstellen zu führen und Ansprechpartnerinnen an der Schule zu benennen, an die sich Lehrer wenden können, wenn es Missbrauchsfälle zu melden gibt. Allerdings blieb es bislang bei dem Brief, Materialienpakete und Schulungsangebote für die Lehrer wurden unseres Wissens nicht offeriert. Momentan herrscht also eine große Überforderung an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen vor Ort. Für die vielen Ratsuchenden unter dem Lehrpersonal sind die Fortbildungsangebote nicht ausreichend.

sueddeutsche.de: Momentan konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf die Missbrauchsfälle an Schulen. In welchen Bereichen leisten Sie bei Amyna außerdem Aufklärungsarbeit?

Rudolf-Jilg: Ein Problembereich ist zum Beispiel sexuelle Gewalt unter Jugendlichen. Ein Sechstel der Sexualstraftaten wird durch Jugendliche verübt, das wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Aber auch in der Behindertenhilfe gestehen sich Einrichtungen mittlerweile ein, dass Handlungsbedarf besteht. Behinderte Menschen sind einem erhöhten Missbrauchsrisiko ausgesetzt, entweder durch Pflegepersonal oder andere Behinderte.

Und etwa 30 Prozent der Missbrauchsfälle finden nach unseren Informationen in der Familie statt, diesen vorzubeugen ist natürlich am schwierigsten. Hier versuchen wir etwa, bei Elternabenden blinde Flecke zu beseitigen und aufzuzeigen, dass der Täter nicht unbedingt von außen kommen muss. Es kann der Vater sein, der neue Lebensgefährte, aber es gibt auch Täterinnen. 15 Prozent der sexuellen Übergriffe werden von Frauen verübt.

sueddeutsche.de: Gibt es denn stumme Signale, mit denen Kinder den Missbrauch kommunzieren, etwa Kinderzeichnungen?

Rudolf-Jilg: Vor einigen Jahren noch war man der Ansicht, dass Kinderzeichnungen, Puppenspiele oder ein detailliertes Wissen über Erwachsenensexualität bei Kindern sicher auf einen Missbrauch hinweisen. Mittlerweile wissen jedoch selbst manche Grundschüler, die Handys besitzen und untereinander pornographische Bilder austauschen, sehr genau über Erwachsenensexualität Bescheid. Deswegen kann man Zeichnungen oder Puppenspiele, die den sexuellen Akt nachstellen, nicht als zwingende Missbrauchssignale deuten.

sueddeutsche.de: Was können Sie Eltern raten, die ihre Kinder schützen wollen?

Rudolf-Jilg: Zunächst ist das Sprechen über Sexualität und den eigenen Körper wichtig, das kann bereits im frühesten Alter geschehen, wenn die Kinder zu reden beginnen. Man muss noch nicht über Missbrauch sprechen, aber man kann vermitteln, dass es Grenzen gibt und man die Grenzen des anderen respektieren muss. Ebenso, dass andere die eigenen Grenzen zu respektieren haben.

Später, wenn sie zur Schule gehen, kann man auch das Thema Missbrauch ansprechen. Mit den Eltern darüber zu reden löst in jedem Fall weniger Ängste aus als die Zeitungsschlagzeilen, die sie auf dem Weg zur Schule lesen können. Wichtig ist, den Kindern immer wieder zu signalisieren, dass man zu ihnen steht und bereit ist, mit ihnen auch schwierige Situationen durchzustehen. Selbst wenn die Vorwürfe den eigenen Partner oder Großeltern treffen sollten. Kinder haben oftmals ein Gespür dafür, wie belastbar ihre Eltern sind. Wenn sie glauben, die Mutter oder der Vater würden die Wahrheit nicht verkraften, kann es vorkommen, dass sie lieber schweigen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.951624
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/bgr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.