Süddeutsche Zeitung

Porträt:Gewebte Landschaft

Die 87-jährige Textilkünstlerin Else Bechteler hat in mehr als 50 Jahren ein umfangreiches, farbenfrohes Werk geschaffen, das inspiriert ist von der Natur. In ihrer Schwabinger Wohnung erinnert noch vieles an ihren verstorbenen Mann Stefan Moses - doch allmählich erobern sich ihre Werke den Raum zurück

Von Sabine Reithmaier

Else Bechteler steht schon an der Tür. "Ich habe noch nichts verändert", sagt sie gleich nach der Begrüßung. Stefan Moses, ihr Mann, ist vor drei Jahren gestorben. Doch alles in der Schwabinger Wohnung ist noch so, wie er es verlassen hat. In einer Ecke des Wohnzimmers stapeln sich flache Kartons mit Fotos - "das hätte noch ein Band über Bäume werden sollen". Die meisten Tische sind unter Bücherbergen verschwunden, auf Regalen und Fensterbrettern tummeln sich Tierskulpturen, nicht nur die von Moses heiß geliebten Katzen, sondern auch Elefanten. "Er war ein Sammler", sagt die zierliche kleine Frau und blickt sich um. "Hauptsache, ich habe noch Platz."

Dass sie gerade dabei ist, sich den Raum zurückzuholen, in dem sie eigene Werke platziert, nimmt man erst auf den zweiten Blick wahr. Zwei ihrer frühen Gemälde hat sie locker an Stühle gelehnt. Gleich daneben liegen die " Jahreszeiten", vier zarte wie Farbstudien wirkende Gewebe, teils mit Stickereien versehen. An der Rückwand des Raums hängt die "Landschaft I", eine drei Meter lange und 1,20 Meter breite Tapisserie in intensiven Blau- und Brauntönen. Ein ungewöhnliches Stück, auch weil Else Bechteler mit Lücken und Löchern spielt oder Fäden einfach hängen lässt. Gewebt hat sie die Arbeit 1970, inspiriert von der Landschaft Mallorcas.

Doch die Künstlerin will nicht lang über diese Arbeit reden. Sie holt den eben erschienenen Bildband, der einen fundierten Überblick über ihr Leben und ihre Kunst liefert. "Da war ich mal energisch", sagt sie zufrieden. Es war ihr wichtig, ihre Arbeiten von den Sechzigerjahren bis in die Jetztzeit in einem Buch versammelt zu wissen. "Mich kennt doch keiner mehr", sagt sie dann, überlegt kurz. "Und richtig bekannt bin ich eh nie gewesen."

Was allein die Fülle an Auftragsarbeiten im Buch sofort widerlegt. Gut, sagt Else Bechteler, sie sei vielleicht schon etwas bescheiden. "Aber in meiner Familie war das so." Der Mutter, selbst eine hervorragende Textilwerkerin, fiel die Begabung der Tochter früh auf. 1949 begann diese eine Lehre in einer Allgäuer Handweberei, fertigte Fleckerlteppiche, lernte Stoffe färben und weben. "Das war die Grundfeste für all mein späteres Tun." Aber damit begnügen wollte sie sich nicht, zog nach der Gesellenprüfung nach Berlin, besuchte die Meisterschule für Kunsthandwerk. "Als ich erzählte, dass ich weben kann, wurde ich gleich zum Unterrichten herangezogen." Niemand sonst vermochte mit einem großen Webstuhl umzugehen.

Eine schwere TBC-Erkrankung zwang sie 1954 nach Hause zurück. Drei Jahre dauerte es, bis sie wieder gesund war. In dieser Zeit reifte, von den Eltern ermutigt, der Entschluss, in München bei Franz Nagel Malerei zu studieren. "Ich wollte mir die Farben aneignen, wollte lernen, mich künstlerisch besser auszudrücken." Als sie die Akademie 1964 als Meisterschülerin wieder verließ, wusste sie schon, dass sie ihre Gemälde nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Webstuhl erschaffen würde.

Anfangs begnügte sie sich mit kleinen, abstrakt gestalteten Wandteppichen, sie tastete sich behutsam voran. "Licht" nannte sie ihre erste raumbezogene Arbeit, eine Tapisserie für die Hauskapelle des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. "Ich habe viel experimentiert, vieles spielerisch weiterentwickelt." Den "Fahnenwald" etwa, eine Werkgruppe aus langen schmalen, durchscheinenden Stoffbahnen. Bechteler steht auf und holt eine Fahne. Zwölf habe sie davon gewebt, für jede drei Tage gebraucht. "Aber da musst du acht Stunden mindestens sitzen." Die Idee entstand auf einer Schwedenreise 1968, als sie ihren Onkel besuchte, den Maler Eduard Bechteler. "Ich war begeistert von den Farben, den ineinander übergehenden Blau- und Grüntönen." So entstand mit dem von der Decke hängenden, frei schwingenden Fahnenwald eine begehbare Rauminstallation, damals ein neuer Ansatz, der ihr zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen einbrachte.

Dass Landschaften ihre Arbeiten prägten, sei nicht selbstverständlich gewesen, sagt sie heute. "Wäre ich in Berlin geblieben, hätten sich meine Motive vielleicht anders entwickelt." 1933 ist sie dort geboren worden. Die Eltern, der Bildhauer Theo Bechteler und Elfriede Kristeleit, ein Allgäuer und eine Ostpreußin, hatten sich in der Stadt kennengelernt und wollten dort auch bleiben. Die Nazis zerstörten diese Lebensplanung, die Familie mit vier Kindern fand sich nach dem Krieg in Immenstadt, dem Geburtsort des Vaters, wieder. Else, die wegen der schwierigen Lage in Berlin erst nach Sachsen und dann nach Böhmen evakuiert worden war, lief im April 1945 teilweise zu Fuß über Österreich nach Bayern. "Kein Elternteil wusste, wo ich bin." Ihr Zuhause erreichte sie im Juli.

Else Bechteler steht auf und bittet in einen Nebenraum. Hier stehen und liegen mehrere ihrer kleinformatigen Werke. Aber nicht die will sie zeigen, sondern die subtilen, an Alberto Giacometti erinnernden Bronzeplastiken des Vaters. Dann holt sie aber doch noch eine eigene Arbeit. Den "schwebenden Flügel", der, wie die Fahnen, frei im Raum hängen sollte. Nur dann entfalten die fein abgestuften Rottöne ihre warme Kraft. Der Flügel war die letzte Arbeit, die sie 1995 noch eigenhändig am großen Webstuhl webte. "Dann reichte meine Kraft nicht mehr." Als 2004 ihr Kooperationspartner, die Nürnberger Gobelin-Manufaktur, schließen musste, wurde es schwierig, große Arbeiten zu realisieren.

Dabei waren manche ihrer Aufträge von wahrhaft monumentaler Größe. Für die Sankt-Hedwigs-Kathedrale im damaligen Ostberlin webte sie drei Jahre lang den "Erhöhten Herrn", eine dreiteilige Tapisserie, mehr als zehn Meter hoch, fast fünf Meter breit. Genau in der Zeit fand sich eines Tages in ihrem Atelier in der Preysingstraße Stefan Moses ein. Bechteler hatte ihn bei einer Vernissage kennengelernt. "Er war ein neugieriger Mensch", wollte die zwei Webstühle sehen, an denen sie saß. Und fotografierte auch ein bisschen. "Seitdem war ich mit ihm." 1985 heirateten sie.

Sie arbeitete weiter, aber längst nicht mehr so viel. "Beim Weben brauchst du volle Konzentration, das geht am besten allein." Moses gefielen ihre Arbeiten, aber viel danach gefragt habe er nicht. Nein, verletzt habe sie das nicht, "ich wusste es ja". Und es sei auch oft sehr angenehm gewesen, von so einem "lässigen Mann" wie Moses von der Schwerstarbeit Weben befreit zu werden.

Inzwischen hat sie das Weben ganz aufgehört, dafür mit dem Stricken begonnen. Lauter kleine lockermaschige Teile, die sie zu Collagen fügt. "Ich fange an, höre auf, fange das nächste an, immer weiter." Eine ziemlich gute Methode, um nicht in einen Abgrund an Trauer zu stürzen. Oder unentwegt darüber nachzudenken, was aus den in Truhen versenkten Tapisserien einmal werden soll.

Übrigens: Die einzige, in München noch am Originalort sichtbare Werk Bechtelers ist das "Tuch". Die farbintensive Tapisserie hängt im Eichamt an der Franz-Schrank-Straße. Die Behörde soll umziehen. Was mit der Tapisserie passiert, ist unklar. Aber immerhin, findet Sven Koch, der mit Sylvie Bohnet das Konzept des neuen Bildbandes erarbeitet hat. "Der Flughafen München, BMW oder das Würzburger Juliusspital wissen nicht mal mehr, dass sie da mal was hatten ..."

Else Bechteler. Farbe und Gewebe. Hirmer Verlag

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SZ vom 03.04.2021
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