Süddeutsche Zeitung

Porträt:Es gibt kein Kind, das nicht etwas Gutes in sich hat

Alexander Diepold war ein Heimjunge. Er hat damals schlimme Erfahrungen gemacht und früh beschlossen: Ich will anderen helfen. Dann gründet er das Madhouse für schwer erziehbare Jugendliche. Und eines Tages entdeckt er die Wurzeln seiner eigenen Familie

Von Thomas Anlauf

Diese Augen haben schon so viel gesehen: Armut, Angst und Wut; aber auch Hoffnung, Glück und Mut. Wenn Alexander Diepold von all den Geschichten erzählt, die er erlebt hat, ziehen sich die Brauen zusammen wie ein schützendes Dach über den Augen. Alexander Diepold hat viel zu erzählen.

Da ist natürlich sein Lebenswerk, das Madhouse, das in einer Woche 30-jähriges Bestehen feiert. Die Jugendhilfeeinrichtung entstand im September 1987 als stationäres heilpädagogisch-therapeutisches Wohnheim, das Alexander Diepold gründete. Schwer erziehbare Jugendliche wohnten dort, solche, die Probleme mit dem Gesetz bekommen hatten. "Ich habe diese Jugendlichen gesehen, die durch alle Raster gefallen sind", sagt er. "Aber es ist mein Glaube, dass es kein Kind gibt, das nicht etwas Gutes in sich hat." Das Außergewöhnliche an seinem Projekt: Er lebte mit den Jugendlichen wie in einer WG zusammen.

Eigentlich beginnt diese Geschichte aber schon viel früher als im September 1987. Alexander Diepold war selbst ein Heimkind, er wurde bald nach der Geburt von seiner Mutter getrennt, die damals im Barackenlager Fischerholz im Nordwesten Augsburg untergekommen war und zwölf Kinder zur Welt gebracht hatte. Dort lebten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Sinti und Roma, die die Vernichtungslager der Nazis überlebt hatten oder vertrieben worden waren. Der kleine Alexander wuchs fast ohne Eltern auf, nur im Alter von sechs bis acht Jahren war er bei seiner Mutter und schlief dort mit den anderen in einer drei mal drei Meter kleinen Hütte. Es müssen einige grausame Kindheitsjahre gewesen sein. Wenn er im Heim nicht gehorcht hatte, "bekam ich ein Pflaster auf den Mund geklebt und wurde in eine Schublade gesteckt". Als Alexander Diepold von den schrecklichen Erfahrungen erzählt, wird seine Stimme ganz leise. "Das ist meine Hintergrunderfahrung", sagt er dazu nur.

Diese Zeit hat ihn geformt, er war ein Kind, das nach Freiheit drängte, aber auch eines, das verstand, was es heißt, am Rand der Gesellschaft zu stehen. Schon als Jugendlicher wusste er, was er einmal machen wollte: als Sonderpädagoge Jugendlichen helfen, denen es ebenso ergeht wie es ihm ergangen war.

Mit 18 Jahren war er bereits Präfekt, der jüngste Erzieher in Deutschland, dabei hatte er offiziell keine Ausbildung. Doch damals, im Jahr 1980, wollte die Regierung von Schwaben ein neues Projekt testen, ein Haus mit Jugendlichen, die keiner will. Alexander Diepold traute sich das zu, er wollte nicht einmal Geld dafür, dass er drei Jahre lang mit den Jugendlichen zusammenlebte. Es funktionierte. "Ich habe am Anfang alle durchgebracht", erinnert sich der heute 55-Jährige. Sogar einen jungen Autisten hat er zum Sprechen gebracht. "Das lief über die Beziehungsebene", sagt Diepold über seine frühen Erfolge. Insgesamt zehn Jahre lang lebte er mit schwerst auffälligen Kindern und Jugendlichen, auch seine spätere Frau wohnte in dem Haus, bis sie schwanger wurde. "Wir haben dann noch zwei äußerst gewaltbereite Kinder mitgenommen" in das neue Zuhause, wo Diepold gerade eine Familie gründete.

Zu dem eigenwilligen Namen Madhouse kam die Einrichtung durch die Jugendlichen selbst. Diepold wollte sein Projekt nun in Eigenregie führen, dafür brauchte er einen Namen für das Registergericht. Also sprach er mit seinen Jugendlichen. Einer, der bereits aus jeder Schule geflogen war, sagte: "Draußen ecken wir überall an, aber hier im Haus können wir harmonieren - das ist schon echt mad." Madhouse, das Haus der Wütenden, der Wahnsinnigen. Das Gericht lehnte den Namen erst ab, erst als Diepold dem Richter die Geschichte erklärte, wurde Madhouse anerkannt.

Im Laufe der Zeit baute Diepold seine nun gemeinnützige Madhouse GmbH Zug um Zug aus, es kamen Betreutes Wohnen und schließlich eine ambulante Erziehungshilfe dazu. Längst war die Einrichtung von Aichach nach Augsburg umgezogen, 1988 war das, ein Jahr nach der offiziellen Gründung des Projekts. Eines Tages kam eine Anfrage, zwei Sinti-Kinder mit im Haus aufzunehmen. Kein Pädagoge zuvor konnte mit ihnen umgehen, doch Alexander Diepold hatte "sofort einen Draht zu den beiden". Seine Mitarbeiter waren verwundert. "Wir wissen nicht, was du an dir hast, dass die beiden so reagieren", meinten die Kollegen. Einer der beiden, ein 13-Jähriger, sagte dann zu ihm: "Du könntest mein Vater sein."

Dieses Erlebnis machte den Ersatzvater nachdenklich. Ein Jahr später lernte er im Rahmen seiner Arbeit eine alte Frau kennen, eine Sinteza. Sie sah ihn lange an und sagte ihm schließlich: "Du bist einer von uns." Er, Alexander Diepold, sollte ein Sinto sein? Seine Mutter hatte ihm nie davon erzählt. Doch die alte Frau wusste noch mehr. Sie beschrieb seine Mutter, als die noch als Mädchen im Lager Frauenholz im Münchner Hasenbergl lebte und sich dort um eine alte Frau kümmerte, die alle im Lager nur "Die Grille" nannten. Sie nannte auch den Sinti-Namen von Diepolds Mutter: Loli, die Rote. Er fuhr nach Augsburg, sprach mit seiner Mutter und sagte: "Ich weiß fast nichts von dir." Als er ihr die Geschichte der alten Frau erzählte, nickte seine Mutter und sagte, das Mädchen im Frauenholz sei tatsächlich sie gewesen.

Für Alexander Diepold war das wie ein Erwachen, die Entdeckung einer zweiten Identität. Nun war er nicht nur ein ehemaliges Heimkind, sondern auch Teil einer ethnischen Minderheit in Deutschland. Einer Bevölkerungsgruppe, die seit Jahrhunderten hier lebt und trotzdem immer wieder unterdrückt, vertrieben, diskriminiert wurde und die noch heute gelegentlich als "Zigeuner" beschimpft wird. Für Alexander Diepold war es von da an klar, sich nicht nur aktiv im Verband Deutscher Sinti und Roma zu engagieren, nein, auch sein Madhouse bekam eine neue Wendung.

Seit 2002 bekam der Heimleiter, in München angekommen, nicht nur den Auftrag für Ambulante Erziehungshilfen der Stadt in Sendling, Westpark und München Mitte. Daneben gründete er eine überregionale ambulante Erziehungshilfe für Sinti und Roma in ganz München, 2010 wurde das Angebot durch eine Familien-, Ehe- und Erziehungsberatungsstelle für Sinti und Roma ergänzt.

Im Besprechungsraum von Madhouse, das an der Landwehrstraße im Bahnhofsviertel zu Hause ist, hängt eine Urkunde an der Wand, der bayerische Integrationspreis. Den hat Diepold im Dezember vergangenen Jahres gemeinsam mit "Drom - Sinti und Roma" der Diakonie Hasenbergl erhalten für die Verbesserung der Bildungschancen und der schulischen Integration junger Sinti und Roma. "Die Mediatoren fungieren als Brückenbauer zwischen Familien und Schule, um die Verkettung von Ausgrenzung und Selbstausgrenzung von Sinti und Roma zu überwinden", heißt es in der Begründung des Preises.

Alexander Diepold will jedoch noch viel mehr erreichen, als Münchner Kinder von Sinti- und Roma-Familien ein selbstverständliches Leben in der Schule und in der Freizeit zu ermöglichen. Er fordert seit Jahren ein eigenes Begegnungszentrum. "Wir könnten endlich sichtbar werden", sagt er. Nur dann hätten Sinti und Roma auch die wirkliche Chance, als ein gleichberechtigter Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen zu werden. Doch bislang wurde das von städtischer Seite laut Diepold nicht ernsthaft weiterverfolgt, trotz mehrerer Vorstöße von ihm.

Dabei täte München gut daran, die Volksgruppe der Sinti und Roma noch besser in der Stadtgesellschaft zu integrieren. Diepold schätzt, dass in München etwa 10 000 Sinti und 6000 Roma leben, allein im vergangenen Jahr betreute Madhouse knapp dreihundert Familien, das sind insgesamt etwa 2500 Menschen. Die meisten Familien sind extrem kinderreich, wie Alexander Diepolds Familie, von der er so lange nichts wusste. Doch jetzt hat er seine Heimat gefunden und seine Wurzeln. Und dafür kämpft er, mit Mut und Hoffnung - aber auch mit Wut.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2017
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