Singen in München:Zum Chorsänger in nur zwei Stunden

Der Go Sing Choir ist Münchens erster offener Popchor. Jeder darf mitmachen. Möglich wird das durch Dirigent Jens Junker, der ziemlich viel Energie in das Projekt steckt - warum tut er das?

Von Michael Bremmer

Nach dem letzten Ton richtet Jens Junker beide Zeigefinger auf die Sänger vor sich. Dann reckt er beide Arme in die Höhe und klatscht. Er geht ein Schritt zurück, presst seine Handflächen zusammen, verbeugt sich vor seinem Chor. "Das macht so einen Spaß", sagt er, "wir sollten das öfters machen." Es ist Sonntagabend. Gerade hat Junker in zweieinhalb Stunden mit 500 Frauen (hauptsächlich) und Männern (deutlich in der Unterzahl) den Pop-Song "The Scientist" von Coldplay einstudiert - dreistimmig.

Der Go Sing Choir ist Münchens erster offener Popchor - offen, weil jeder, der will, kommen kann; an diesem Sonntag ist bestimmt die Hälfte der Sänger zum ersten Mal dabei. Zunächst haben sie sich einmal im Monat in der Milla getroffen, als der Club zu klein wurde, sind sie in den Strom-Club umgezogen. Im Januar mussten sogar hier hundert Sänger abgewiesen werden, auch am Sonntag ist es brechend voll. Studenten sind da, auch Rentnerinnen.

Singen ist gut fürs Herz. Singen macht glücklich. Singen stärkt die Abwehrkräfte. Singen hat eine lange Tradition in München. Mehr als 300 Chöre soll es hier geben, so genau weiß das keiner. Doch "noch nie wurde eine so breite Öffentlichkeit erreicht wie heute", sagt Junker. Heute wird dort gemeinschaftlich gesungen, wo sich Menschen in ihrer Freizeit aufhalten. In Kneipen, in Clubs. Veranstaltungen wie das Rudelsingen im Gasteig oder der Volxgesang im Wirtshaus im Schlachthof werden zur gemeinschaftlichen Karaoke-Show, Auftritte vom Münchner Kneipenchor fühlen sich an wie ein Popkonzert, frei und irgendwie auch wild. Der Münchner Kneipenchor - auch hier ist Junker Chorleiter - sollte von Anfang an offen für alle sein, schon längst existiert auch hier eine Warteliste für Menschen, die mitsingen wollen. Erst motiviere man die Leute, dann müsse man sie wieder wegschicken. "Das ist schon schade", sagt Junker.

Der Go Sing Choir ist für ihn die logische Konsequenz. Alle können kommen. "Wirklich jeder", sagt Junker, ganz egal, wie gut er singen kann. Es gibt kein Vorsingen, keine Mitgliedschaft - und Notenblätter existieren eh nicht. Einstudiert wird in knapp zwei Stunden ein Popsong: " Creep" von Radiohead, "Where Is My Mind?" von den Pixies, "Imagine" von John Lennon. Zum Abschluss wird ein Video gedreht, dann geht die Meute nach Hause - oder auf die Straße als singender Flashmob.

Jens Junker ist immer Dirigent, selbst beim Erzählen. Er sitzt in der Loretta Bar im Glockenbachviertel und erklärt, wie er zum Chor gekommen ist. Junker ist immer in Bewegung. Er beugt sich nach vorne, hält beide Handflächen nach oben, zieht die Schultern an, streckt die Arme, umfasst mit den Händen seinen Hinterkopf. Es ist ja auch - so viel sei vorweggenommen - eine komplexe Geschichte. Eine Geschichte, die von Castrop-Rauxel nach Köln, nach München, in den Libanon und wieder zurück führt. Es ist eine Suche nach der eigenen Identität. Es ist aber auch eine musikalische Spurensuche, die von Klassik und Kirchenmusik zu Popmusik und von dort zum Go Sing Choir führt.

Ein Werbefilm, der vor Gericht landet

Jens Junker ist Filmemacher. Sein Geld verdient er mit Werbe-Clips. 2005, als Student an der Hochschule für Fernsehen und Film in München, drehte er einen Werbespot für die taz . Ein Mann kommt an einen Kiosk und will eine Bild-Zeitung kaufen, der Kioskbesitzer bietet ihm eine taz an. Dann brechen sie in lautes Gelächter aus - und am Ende wird eingeblendet: "taz ist nicht für jeden und das ist OK so." Der Springer-Konzern ließ den Clip verbieten, nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist er heute wieder zu sehen. Dieser Film machte Junker interessant für die Agenturen. Nur: Geld verdienen ist das eine, seine Arbeit für die Chöre das andere. In den Go Sing Choir investiert Junker jede Menge Zeit, nach eigenen Angaben zehn Arbeitstage im Monat.

Warum tut er das, warum steckt er so viel Energie hinein? Diese Frage lässt Jens Junker erst einmal erstarren. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen, beißt sich während des Überlegens auf die Lippen, reibt sich mit Daumen und Zeigefinger das Kinn. "Ich habe gemerkt, dass es mir gut tut", sagt er dann, es gebe ihm Kraft. "In einer Zeit, in der die Gesellschaft auseinanderdriftet, ist es wichtig, etwas Gemeinschaftsförderndes zu tun", sagt er. "Ich spüre eine Verbindung mit Menschen in einer Intensität, die ich so bislang kaum erlebt habe", sagt er. Das ist die eine Seite. Die andere: Viele Dinge, die er bislang in seinem Leben gemacht habe, kommen heute bei der Arbeit mit dem Chor zusammen.

Jens Junker, Jahrgang 1976, ist in Castrop-Rauxel in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Seine Kindheit, seine Jugend sind geprägt von seiner strenggläubigen Familie, Neuapostolische Kirche, "ein spezieller Haufen", wie es Junker heute ausdrückt. Schon früh lernte er Blockflöte, mit sechs dann Geige, mit zehn Kirchenorgel, Kirchenchor. Die Klassik war lange Zeit sein Leben, bis er 20 wurde, spielte er Konzerte, zum Teil in ganz Deutschland.

Es war lange eine vermeintlich heile Welt, das zeigen Fotos und Super-8-Filme aus dieser Zeit. Dass er dunklere Haare als seine Brüder hatte, kümmerte ihn wenig. Dass er öfters auf einen Döner eingeladen wurde, weil Türken den Jungen mit den schwarzen Locken für einen Landsmann hielten, irritierte ihn nicht. Und auf die häufige Frage, woher er denn komme, antworte er, wie er sich heute erinnert: "Die beiden Leute, von denen ich annehme, dass sie meine Eltern sind, sind Deutsche." Als Junker 18 war, ließen sich seine Eltern scheiden. Als er 21 war und Geld für sein Studium einforderte, offenbarte ihm sein Vater während eines Streits, dass er nicht sein leiblicher Sohn sei.

An Details des Streits kann sich Junker nicht mehr erinnern - die ganze Situation war jedenfalls "denkbar ungünstig für ein Vater-Sohn-Verhältnis", sagt Junker heute. Es folgte der Bruch. Junker verließ seine Familie. In Köln, wo Junker "seine Pubertät nachholte", arbeitete er beim Film, absolvierte Praktika, um von 2001 an in München an der Filmhochschule zu studieren. Neun Jahre herrschte mehr oder weniger Funkstille zwischen Junker und seinen Eltern. Als er nach dem Streit ausgezogen war, hat er ein Stück Papier mitgenommen. Darauf stand der Name einer früheren Affäre seiner Mutter. Der Name eines Mannes aus dem Libanon, sein Vater?

Die eigene Spurensuche wurde zum Film

Dieser Zettel brachte den Filmstudenten auf die Idee zu einem Dokumentarfilm, eine Spurensuche, die ihn zunächst zurück in den Ruhrpott, dann nach Beirut führte. Dort traf er einen Mann, einen Arzt, den er als "biologischen Vater" ansieht, ohne einen medizinischen Beweis dafür zu wollen. "Du hast meine Augen", sagt der Mann im Film, "ich habe die Segelohren von dir", entgegnet Junker. Irritiert ihn das heute? Er schüttelt den Kopf: "Ich habe fünf Geschwister im Libanon dazugewonnen", sagt er. Dafür ist er dankbar.

Etliche Preise gewann Junker mit dem Dokumentarfilm "Alias", zwei Jahre tourte er damit von Festival zu Festival. Februar 2011 war er beim Filmfestival Damaskus. Er lernte eine Frau kennen, eine Tänzerin, die in der syrischen Opposition aktiv war. Kurze Zeit, nachdem er nach Hause abgereist war, begann in Syrien die Revolution. Bei einem ihrer Besuche in München erfuhr die Aktivistin nicht nur, dass sie aus Sicherheitsgründen nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren kann, sie war auch schwanger. Auf der Suche nach seinem Vater ist Junker selbst Vater geworden. Die Liebe war nicht auf Dauer. Jetzt pendelt er zwischen München und Berlin, wo sein Sohn wohnt. "Ich erwarte schon noch die ein oder andere Überraschung in meinem Leben", sagt Junker.

Über die Münchner Band Schicksalscombo kam Junker zum Münchner Kneipenchor - und somit auch zum Go Sing Choir. "Jens Junker ist für mich ein kreativer Visionär mit hohem Anspruch", sagt Mona Walch, Gründerin des Münchner Kneipenchors. "Er ist ein Perfektionist und Arbeitstier, und selbst als Mutter kleiner Kinder erstaunt es mich immer wieder, mit wie wenig Schlaf er über die Runden kommt."

Mittwochabend vor dem Auftritt. Junker steht in der Küche seiner Wohnung im Westend. An der Wand hängt ein Plakat des Go Sing Choirs, darauf klebt ein Fünf-Euro-Schein - ein älterer Herr hat diese Gage nach dem ersten Flashmob des Chors gezahlt. Junker trägt ein weites Sweatshirt, Jeans, zwei unterschiedliche Socken, links blau, rechts rot. Mit dem Gitarristen und Chor-Mitbegründer Ian Chapman stimmt er die Arrangements für den Auftritt am Sonntag ab. "The Scientist" ist eine Ballade. Am Anfang singt Coldplay-Sänger Chris Martin zu einer Klaviermelodie, erst nach und nach kommen Gitarre, Bass und Schlagzeug hinzu.

All das hat der Chor nicht - Junker und Chapman arrangieren den Song mit drei Gesangsstimmen, immer darum bemüht, es möglichst einfach zu halten, ohne das Lied zu versauen. Fünf Notenblätter liegen auf den Küchentisch, Ian Chapman steht mit einer Akustik-Gitarre davor, über einen Laptop wird "The Scientist" gespielt und Jens Junker dirigiert mehr oder weniger ins Leere. Eine junge Frau aus dem Haus gegenüber blickt von ihrem Smartphone auf, schaut aus dem Fenster und muss kurz grinsen. Es ist aber auch ein schönes Bild.

Der Chor ist Junkers Leben

Sonntagabend. Bereits um 18 Uhr reicht die Warteschlange bis zur U-Bahn-Station Poccistraße. Jens Junker sitzt hinter der Bühne, singt sich ein. Eine Stunde später ist der Club gesteckt voll. Einige sind regelmäßig beim Go Sing Choir zu Gast, andere haben bisher vielleicht nur unter der Dusche gesungen. Um 19 Uhr wird der Originalsong eingespielt, der Chor singt mit, muss sich aber von dieser Version erst mal verabschieden. Lockern, einsingen, in eine Tonart einordnen: Eine Gruppe ist für die Melodie verantwortlich, zwei Gruppen für die Harmonie - einmal für die hohen Töne, einmal für die tiefen. "Ihr habt nicht so viel Text", sagt Junker zu ihnen, "aber dafür eine große Verantwortung." Strophe für Strophe, Refrain für Refrain erarbeitet sich der Chor den Coldplay-Song, erst jede Stimmlage für sich, dann zusammen. Junker korrigiert, Junker motiviert. "Klasse, es läuft", sagt er und klatscht. "Wir hören es ja heute zum ersten Mal. Es ist schön, wenn man merkt, dass die Arrangements klappen."

Nach zweieinhalb Stunden zeigt Jens Junker seine Gänsehaut am Unterarm. Er klatscht und bedankt sich bei seinem Chor. 500 Sänger haben "The Scientist" gesungen - gefühlvoll, und doch dynamisch. Pius Neumaier hat die letzte Aufnahme für den Videofilm gemacht, Niklas Bühler hat den Ton dafür eingefangen. Ein großer Aufwand für einen Chorabend, selbst bei einem ausverkauften Club kommen keineswegs so hohe Einnahmen zusammen, um den hohen Einsatz zu entschädigen.

Mittlerweile werden sie für Teambildung gebucht. Im Sommer wurde Junker etwa vom Gasteig eingeladen - Betriebsausflug in die Berge. Auf einer Almwiese übte er mit den Angestellten einen Song von Nena ein: "Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann" - der Songtitel hat in Anbetracht des sich in die Ewigkeit ziehenden Gasteig-Umbaus gleich eine andere Bedeutung.

Der Chor ist mittlerweile sein Leben. Auch das Filmemachen. Sobald Junker Zeit hat, möchte er einen Episodenfilm über einen Chor drehen. Den Soundtrack dazu soll das Publikum direkt im Kinosaal singen. 90 Minuten soll der Film dauern, solange hat das Publikum Zeit, einen Song zu lernen. 90 Minuten? Das schafft Jens Junker.

"Imagine" von John Lennon singt der Go Sing Choir am Sonntag, 24. Februar, vor dem Gasteig. Von 10 Uhr an wird die Friedensnummer vor dem Carl-Orff-Saal einstudiert und später vor dem Schriftzug #munich4EUROPE aufgeführt. Der Eintritt ist frei.

Zur SZ-Startseite

Chöre
:Die Münchner wollen singen

Und zwar so dringend, dass mancher Kneipen- und Spaß-Chor kaum mehr Mitglieder aufnehmen kann. Wir stellen vier junge Münchner Chöre vor.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: