Süddeutsche Zeitung

Pop:Vom schlechten Gewissen

Im Folk-Pop der jungen Band Provinz geht es kompromisslos um das große Ganze. Sie ist eine Entdeckung wert.

Von Benedikt Scherm

2020 hätte das Jahr von Provinz werden können. Eigentlich müssen. Alles war angerichtet für den sehr großen Wurf: Im April das Debütalbum ("Wir bauten uns Amerika"). Dann die erste eigene Tour, komplett ausverkauft. Im Sommer die Festivals und zum Abschluss noch eine zweite Tour im Herbst. Die Booker waren aus dem Ankündigen gar nicht mehr rausgekommen. Hätte, hätte, Fahrradkette!

Eine Pandemie später erscheint das Album erst jetzt, drei Monate nach dem eigentlichen Termin. Das ist in der Musikindustrie nicht wenig. Beide Tourneen wurden abgesagt, ebenso der Festivalsommer. Und damit auch der Aufstieg? Eine junge Band ohne Live-Kontakt zu den Fans: schwierig. Fast unmöglich. Tötet der Stillstand den Hype?

Wahrscheinlich fühlt man so nur, wenn man frei von existenziellen Sorgen aufgewachsen ist

Groß war er schließlich schon. Das konnte man etwa Anfang des Jahres in der Münchner Muffathalle erleben. Gut 1 500 Menschen passen da rein, und hörte man sich auf dem eintägigen Winterfest um, waren die meisten wohl tatsächlich wegen Provinz gekommen. Zu dem Zeitpunkt hatte die Band aus dem oberschwäbischen Vogt lediglich sechs Songs veröffentlicht, Hymnen auf Partynächte und zerbrechende Beziehungen, die Kraft, die aus Zerstörung wächst: "Rauch steigt in die Nase, jede Nacht/Weil's nur 'ne Phase ist, ja/Fahren mit'm Fiat deiner Ma'/Ich sitz' hinten in der Mitte/Und deine Augen sind rot/Hungrig und breit." Kaum eine Band in Deutschland klingt im Moment so ehrlich und direkt. Im Song: "Mach Platz, mach Platz für uns" heißt es: "Alles, was ich erlebe, fließt durch nen Stift aufs Papier/ Schlechter Einfluss befreit uns/ Jim Morrison sagte, je zerstörter der Körper desto freier sind wir". Warner bot einen Plattenvertrag an.

Der Wechsel zwischen Hyper-Emotionen zieht sich durch die Musik von Provinz. Es wird gefühlt, und das richtig. Halbe Sachen gibt's hier nicht. Das liegt auch an Vincent Waizenegger. Der Sänger der Band ist erst 21 Jahre alt. Seine Stimme bricht und überschlägt sich im Crescendo der Emotionen, die dunklen Korkenzieherlocken hängen ihm tief ins Gesicht. Waizenegger ist einer, der den kollektiven Rausch anstimmen kann, sich darin verlieren, aber auch wieder fangen. Ein Dirigent an der Gitarre ist er zudem.

Wahrscheinlich fühlt man so nur, wenn man jung ist und die Gefühle neu und unverbraucht. Und so fühlt man wohl auch eher, wenn man frei von den großen, existenziellen Sorgen aufgewachsen ist: "Das macht einem manchmal auch ein schlechtes Gewissen, dass es einem so gut geht. Und manchmal denk ich mir auch: 'Fuck, jetzt sing ich wieder über Scheiß-Liebe, es gibt Wichtigeres wahrscheinlich'. Aber für mich in dem Moment halt nicht", erklärt Waizenegger in München.

Eingefangen hat Waizenegger diese Emotionen übrigens im heimischen Vogt, einem dieser Orte, die ohne den Namenszusatz "in der Nähe von" kaum zu lokalisieren sind. Vogt also, bei Ravensburg, und das wiederum in der Nähe vom Bodensee. Feinste Oberschwäbische Provinz. So viel damit auch zum Bandnamen. Waizenegger, Keyborder Robin Schmid und Bassist Moritz Bösing sind Cousins. Schlagzeuger Leon Sennewald ist ein Schulfreund von Waizenegger. Alle sind sie in Vogt groß geworden und wohnen dort bis heute. Proberaum ist der väterliche Keller.

Für einen Videoanruf sei das Netz in Vogt "wirklich zu schlecht", informiert das Management

Mit zwölf gründen Waizenegger und Schmid ihre erste Band, jahrelang machen sie Straßenmusik an ausgesuchten Orten: "Bei den reichen Rentnern am Bodensee", sagt Waizenegger. Für die Band sei dies die beste Ausbildung gewesen, meint der Frontmann im kleinen Backstage-Raum der Muffathalle. Es gibt Schnitzel und Kartoffelsalat, Biere, Zigaretten, Tourgespräche: Sind Musik oder die Mädels beim Klubbesuch wichtiger? Ergebnis: ambivalent. Der Hype, er scheint vor der Bühne größer zu sein als dahinter. Das ist bei einer jungen Band eher ein gutes Zeichen.

Am Anfang des Gesprächs sitzt noch der Manager dabei. Er hat etwas von einem fürsorglichen Vater, der noch ein wenig mit den inzwischen erwachsen gewordenen Jungs chillen will, um sich selber wieder ein wenig so zu fühlen wie früher.

Was macht man also, dort im provinziellen Vogt, tief in der Provinz? Ein bisschen mit dem alten Fiat der Mama durch die Gegend fahren, trinken, rauchen, feiern, abstürzen, sich verlieben und wieder trennen. All diese Erfahrungen, die man so macht, wenn man die ganze Welt im Kleinen erleben will, also etwa in der Nähe von Ravensburg wohnt. Man muss sich sein fernes Amerika dann selbst bauen. "Unsere Musik handelt viel von Naivitäten: wie man Dinge als junger Mensch wahrnimmt, wie man Liebe wahrnimmt, die Diskrepanz zwischen Land und Stadt."

Diese Diskrepanz sieht man ganz gut im Musikvideo zu "Was uns high macht". Ein Dutzend junge Menschen sitzen in Kneipen, über denen in Frakturschrift "Wirtschaft" steht, sie laufen über leere Straßen und kleiden sich so, wie man wohl in Vogt denkt, dass Menschen in Berlin aussehen müssen, bzw. so, wie Videomacher denken, dass sie das Biotop Provinz ordentlich provinziell aussehen lassen können: Leopardenmuster, übergroße Jeansjacken und der blaue Pulli mit den gelben Sternen, der vor der Europawahl 2019 mal sehr angesagt war. Zeitgeist, handmade in Vogt.

"Was uns high macht" ist ein leichter Song, einer, der Aufbruch verspricht und die Vorfreude auf den Rausch. Und es ist auch der Durchbruch für die vier Bandmitglieder im Sommer 2019. Auf Spotify ist es bis heute ihr meistgehörter Song. Beim Konzert in München sangen die meisten Zuschauer jedes Wort denn auch brav mit.

Doch das war im Januar. Zeit für ein Update. Geplant war ein Videoanruf, aber dafür sei das Internet in Vogt "wirklich zu schlecht", informiert das Management. Also dann gute alte Telefon. Ein frustrierter Waizenegger fasst Albumaufschub, Tourabsagen und den geplatzten Festivalsommer zusammen: "Irgendwie hat man sich mit der Situation jetzt abgefunden, auch wenn es am Anfang natürlich schmerzhaft war." Ein paar Alternativen wurden geschaffen, es gibt jetzt Picknickkonzerte, Livesessions auf Youtube und Instagram-Konzerte. Das Wahre ist es nicht. Andererseits hat Waizenegger auch keine große Lust, irgendwas hinterherzutrauern. Hilft ja alles nichts.

Der Videochat als Musikvideo ist sicherlich kein Ersatz. Aber auch nicht nichts

Über die sozialen Netzwerke hielt man den Kontakt zu den Fans und beteiligte diese auch als Protagonistinnen und Protagonisten am Video zum Song "Diego Maradona". Unzählige Selfie-Videos von singenden Fans inklusive Maradona-Lockenkopf-Instagram-Filter illustrieren jetzt den Refrain. Menschen alleine, doch im Digitalen vereint. Der Videochat als Musikvideo. Kein Ersatz. Aber auch nicht nichts.

Und die Musik übersteht die Corona-Krise zwar nicht auf den Bühnen, dafür aber als eskapistischer Raum, als Momentaufnahme der Jugend und Ausdruck völliger Unbekümmertheit, in Zeiten, in denen diese Leichtigkeit nicht immer so selbstverständlich ist. "Wir bauten uns Amerika" fühlt sich an wie eine Partynacht, beginnend bei der hibbeligen Motivation und Überschwänglichkeit ("Mach Platz!", "Tanz für mich") über das "Schießen uns ab wie Diego Maradona" und den Turbulenzen zwischenmenschlicher Beziehungen ("Verlier dich", "Chaos") endend in der ruhigen Reflexion am nächsten Morgen ("Wenn die Party vorbei ist", "Nur Freunde"). Unbeschwertheit - in diesen Tagen ist das auch von einer Platte viel verlangt.

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Quelle:
SZ vom 05.08.2020
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