1000 Mal am Tag läutet das Telefon. 1000 Mal am Tag bedeutet das: Knopf drücken, Begrüßung, Fragen. Und 1000 Mal am Tag am anderen Ende der Leitung: Angst, Not, Schmerz, Verwirrung oder Wut. Der Dienst in der Einsatzzentrale des Münchner Polizeipräsidiums dürfte einer der stressigsten Jobs in der Stadt sein. Hier laufen alle Anrufe unter der Nummer 110 ein, Unfälle, Schlägereien, Einbrüche, Sexualdelikte, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Doch die Polizeibeamten, die hier an den Telefonen sitzen, sind für ihren Einsatz in der Notrufzentrale gut geschult. Die Anrufer – „Mitteiler“ werden sie hier genannt – haben hingegen oft keine Erfahrung mit Kriminalität und Gewalt oder der richtigen Kommunikation mit der Polizei.
In der Theorie ist das Schema dessen, was abgefragt wird, ganz einfach. Es folgt den sogenannten fünf W: Wer meldet? Was ist passiert? Wie viele Personen sind betroffen/verletzt? Wo ist es passiert? Warten auf Rückfragen. Weil die Mitteiler aber aufgeregt sind, manchmal auch verwirrt, betrunken oder nicht so gut Deutsch sprechen, tun sich viele von ihnen schwer mit den Angaben. Auch mit der Nennung des Standorts. Der aber ist essenziell: Wie soll die Polizei helfen, wenn sie nicht weiß, wo sie hin muss? Zur Behebung dieses Missstands ist seit Anfang des Jahres eine neue Anwendung im Einsatz: „Advanced Mobile Location“, kurz AML, erlaubt die exakte Ortung eines Handys auf wenige Meter genau. Das ist sinnvoll – etwa drei Viertel aller Notrufe gehen mittlerweile per Mobiltelefon ein.
Marcus da Gloria Martins, Chef der Einsatzzentrale, kennt bereits einige Beispiele, bei denen AML der Polizei geholfen hat, schnell am Ort des Geschehens zu sein. So ging vor einiger Zeit ein Anruf ein, ein Mann war am Telefon, er sagte, seine Frau Sabine (Name geändert) leide an einer Psychose und bedrohe ihn. Mehr war nicht zu verstehen, das Geschrei der Frau übertönte jede weitere Kommunikation. Mittels AML konnte der Polizist feststellen, woher der Anruf kam. Die Adresse wurde mit den Meldedaten des Kreisverwaltungsreferats abgestimmt – und tatsächlich war dort eine Frau gemeldet, sie Sabine hieß. So konnten Beamte dem Mann zu Hilfe kommen und die Frau in die Psychiatrie bringen.
Ein anderer Fall: Es ging um häusliche Gewalt, ein Mann würgte seine Frau, beide waren alkoholisiert. Die Anruferin war nicht in der Lage, ihre Adresse mitzuteilen. Über AML konnte die Polizei den Standort ermitteln. Eine Streife fuhr zu der Adresse und konnte die Situation auflösen.
Die Technik hinter der Lokalisierungs-Software ist relativ einfach, aber kaum jemandem bekannt: Wird in Deutschland die 110 gewählt, dann sendet das Handy sowohl die Rufnummer als auch den Standort an die Einsatzzentrale. Diese Funktion ist im Betriebssystem hinterlegt und kann auch nicht ausgeschaltet werden. Marcus da Gloria Martins: „Wir gehen bei einem Notruf davon aus, dass wir schnell handeln müssen, um Hilfe zu schicken, und dass das in diesem Fall wichtiger ist als der Datenschutz. Das sagt auch die Rechtssprechung.“
Ohnehin wird AML nicht bei jedem Anruf angewandt. Wenn der Anrufer klar im Kopf ist und alle nötigen Informationen liefert, dann gibt es keinen Grund, das Lokalisations-Tool einzubeziehen. Wenn aber nicht, dann muss der Polizeibeamte in der Einsatzzentrale die Telefonnummer händisch nach AML kopieren – eine Maßnahme, die der Datenschutz verlangt.
Feuerwehr und Rettungsdienste nutzen die Software bereits seit 2018. Für die bayerischen Polizeipräsidien wurde das System erst Anfang dieses Jahres eingeführt. Da Gloria Martins zufolge liegt das daran, dass seit sieben Jahren europaweit eine einheitliche Notrufnummer für Feuerwehr und Rettungsdienst existiert, nämlich die 112. Die Polizeinummer allerdings ist immer noch länderspezifisch. In Frankreich gilt die 17, in Spanien rufen Hilfesuchende die 091 an, in Österreich die 133. Und jeweils diese Nummern müsse in den Mobiltelefon-Betriebssystemen hinterlegt sein, damit AML funktioniert.
In der Einsatzzentrale in München ist es an diesem Nachmittag noch ruhig. Manche Anrufe haben nichts mit der Polizei zu tun, aber entgegengenommen werden sie doch: Wie wird denn das Wetter morgen? Warum fliegt da jetzt gerade ein Hubschrauber herum? Mein Wlan geht nicht, können Sie sich nicht mal darum kümmern? Da Gloria Martins Lieblingsanruf ist der, als sich ein Mann beschwerte, er sei mit seinem Hund im Park, der könne aber nicht koten, weil ihm zwei andere Hunde dabei zuschauen, und das verletze wohl das Schamgefühl des Hundes. Die Polizei möchte doch bitte …
1000 Anrufe am Tag. Viele davon nervenaufreibend. Aber zumindest die Ortung der Anrufer ist jetzt einfacher geworden: Da rief eine ältere Dame die 110 an. Sie sei irgendwo in München, wisse aber nicht wo, wolle nach Hause kommen, wisse aber nicht wie – und die Passanten wollten ihr auch nicht helfen. Dann legte sie auf, reagierte nicht auf Rückrufe. Über AML konnte die Seniorin lokalisiert werden, eine Streife brachte sie nach Hause.