Politikwissenschaft:"Der rationale Wähler ist ein Ideal"

Politikwissenschaft: Franz Kohout: Alles ist besser als Neuwahlen.

Franz Kohout: Alles ist besser als Neuwahlen.

(Foto: Claus Schunk)

Franz Kohout über die Ursachen von Wählerwanderungen und Chancen für die SPD

Als Professor für Innenpolitik und Politische Systemforschung beschäftigt sich Franz Kohout vom Institut für Staatswissenschaften intensiv mit dem Wahlergebnis von 2017, möglichen Folgen für die Regierungsbildung und Handlungsmöglichkeiten der Parteien. Schüler des P-Seminars sprachen mit ihm über die Koalitionsverhandlungen und seine Arbeit in der politischen Systemforschung.

Schüler: Meinen Sie, dass sich die SPD, angesichts des knappen Zuspruchs ihrer Parteimitglieder, in der Großen Koalition durchsetzen kann?

Kohout: Zunächst geht es um die Aushandlung eines Koalitionsvertrages und dann um das Mitgliedervotum dafür. Wenn eine Koalition zustande kommt, dann sehe ich keine größeren Schwierigkeiten. Die SPD gilt seit jeher als "koalitionstreu". Sollten einzelne Themen aber nicht zur Zufriedenheit der SPD umgesetzt werden oder neue Fragestellungen auftauchen, dann könnte es zur Mitte der Legislaturperiode eine inhaltliche Überprüfung, wenn nicht sogar eine Zäsur geben. Dies wurde ausdrücklich in dem Sondierungspapier so festgeschrieben.

Wären andere Optionen, wie "Kenia-Koalition" oder Minderheitsregierung nicht die bessere Alternative gewesen?

Eine "Kenia-Koalition", also eine Regierung von CDU/CSU, SPD und Grünen würde nur eingegangen werden, wenn die beiden (noch) großen Parteien keine Mehrheit im Bundestag hätten. Im aktuellen Fall war das nie eine Option - je mehr Parteien an Koalitionsverhandlungen teilnehmen, desto schwieriger wird es. Eine Minderheitsregierung wäre eine interessante Variante, aber CDU und CSU - insbesondere die Bundeskanzlerin - haben dies klar ausgeschlossen. Für eine Regierung wäre es auch eine große Erschwernis, sich bei jeder Abstimmung im Parlament eine Mehrheit suchen zu müssen.

Was ist mit Neuwahlen?

Wenn sie relativ kurz nach einer ordnungsgemäßen Wahl stattfinden würden - wären sie schwer zu legitimieren. Einfach so lange zu wählen, bis das Ergebnis für die politische Elite passt, wäre schwer zu vermitteln. Zudem ist nicht klar, ob die Ergebnisse einer Neuwahl nicht in etwa die gleichen wären. Je länger aber der Abstand zur Erstwahl ist, umso eher könnten Wählerwanderungen eintreten, denn dann könnten die Wähler auch die Parteien nach ihrem Verhalten in den Koalitionsverhandlungen beurteilen. Meinem Dafürhalten nach würden FDP und SPD dabei schlecht abschneiden.

Womit beschäftigt sich ein Politikwissenschaftler eigentlich sonst noch?

Die Wahlforschung ist ein prominentes Feld für Politikwissenschaftler. Gerade bei den Vorbereitungen von Wahlkämpfen müssen die Parteien fundiert wissen: Wer wählt wen und warum? Es gibt einige Theorien, die entstanden sind, um den Parteien Hilfestellungen zu geben, den Wähler besser kennen zu lernen. Dabei gibt es vier Modelle. Den soziologischen Ansatz, den mikrosoziologischen, den makrosoziologischen und den sozial-psychologischen.

Was sagen diese Ansätze aus?

Zum einen bestimmen die großen strukturellen Konflikte der Gesellschaft das Wahlverhalten, insbesondere, wenn man der einen oder der anderen Seite angehört, zum Beispiel Arbeit versus Kapital. Diese Wähler entscheiden eher rational. Bei anderen stehen eher emotionale und psychologische Überlegungen im Vordergrund: Wie bin ich sozialisiert, welchen Standpunkt habe ich, meine Sympathien und Antipathien. Der mikrosoziologische Ansatz wiederum ist darauf fokussiert, dass die Menschen das wählen, was ihnen ihre nähere Umgebung suggeriert. Der personelle Faktor spielt dann eine Rolle, und die rationalen Elemente treten in den Hintergrund.

Und wie wäre das dann bei der AfD?

Der gravierendste Unterschied der Wähler der AfD im Verhältnis zu anderen Parteien ist, dass die AfD eindeutig eine Männerpartei ist. Fast doppelt so viele Männer wie Frauen wählten die AfD. Sonst sind die Unterschiede zu anderen Parteien marginal. Ein Politikwissenschaftler muss sich die Wahlergebnisse sehr differenziert anschauen. Welche soziale Gruppe, Alter, Religion, Bildung, Geschlecht hat gewählt und welche Themen waren für sie relevant. Bei dieser Partei stand eindeutig das Thema Migration im Vordergrund.

Aber mit Migration haben sich ja alle andere Parteien auch beschäftigt. Die AfD ist doch so stark geworden, weil sie eindeutig dagegen war. Und Europapolitik hat eine untergeordnete Rolle gespielt.

Ja, das ist richtig. Das Thema der alten AfD war ja eine Anti-Europa-Politik, gegen den Schulden-Verbund-Europa oder die Rettung Griechenlands. Aber daraus ist eine "Germany First"-Haltung entstanden und das ist durchaus ein Argument der jetzigen AfD. Als 2015/16 die große Flüchtlingswelle kam, hatte die AfD einen klaren Standpunkt, dass die Flüchtlinge nicht reindürfen, und wenn sie da sind, dann müssen sie auch wieder raus und wir müssen die Grenzen schließen. Das ist ein ganz klarer, aber kein differenzierter Standpunkt. In den anderen Parteien werden Vorteile und Nachteile der Migration geliefert. Aber der humanitäre Aspekt ist bei dieser Wahl vollkommen außen vorgehalten worden. Ich habe tatsächlich bei diesem Wahlkampf eine differenzierte Auseinandersetzung vermisst. Und ich glaube, ein Großteil der AfD-Wähler denkt tatsächlich nicht so differenziert.

Meinen Sie, dass das bei den Wählern anderer Parteien sehr viel anders ist? Schließlich müsste ich als aufgeklärter Wähler jedes Wahlprogramm jeder Partei lesen, bevor ich zur Wahl gehe, aber wer macht das?

Vollkommen richtig. Das Bild des rationalen Wählers ist ein Idealbild, den gibt es nicht, weil sich kaum jemand die Zeit dafür nimmt. Aber trotzdem kann ich mir als aufgeklärter Bürger ein differenziertes Bild machen, wenn ich das will. Allerdings herrscht eine zu starke Politikmüdigkeit und Parteienverdrossenheit, wo dann ganz schnell nicht mehr weiter gedacht wird. Das hat auch mit Bildung zu tun. Statistisch gesehen partizipieren gebildete Menschen viel mehr, als weniger Gebildete. Und die gebildeten Partizipierenden dürften eher abwägen und differenziert denken, als andere. In diesem Spektrum konnte die AfD erfolgreich sein.

Meinen Sie, die AfD hat bei dieser Bundestagswahl auch an Stimmen gewonnen, weil sie andere Parteien und die Presse so sehr kritisiert hat und somit bei den Bürgern zur Protestpartei geworden ist?

Ja, an dem Argument ist tatsächlich etwas dran und das sehen wir ja auch in Amerika, wo Präsident Donald Trump das im Wahlkampf exzellent gemacht hat, sich als Anti-Establishment-Kandidat hinzustellen. Und da kann man auch sagen: Ja, da gibt es diese "Mainstreampresse" oder gar die "Lügenpresse", die uns gar nicht berücksichtigt oder uns etwas Böses unterstellt. Aus dieser Anti-Haltung heraus konnte die AfD bei einem bestimmtem Klientel ganz gut punkten und Stimmen bei den Unzufriedenen und Überdrüssigen holen. Da kann ich dann mit pauschalen Argumenten und Statements punkten und gut eine Anti-Establishment Linie aufbauen. Hier spielte auch der sozialpsychologische Ansatz eine große Rolle. Viele wählten emotional. Gefühle werden von bestimmten Kreisen geschürt und Parteien spielen natürlich auch mit Emotionen. Ein Vorfall, irgendwo in der Provinz, wo ein Flüchtling eine Straftat begangen hat. Angeblich ein Flüchtling, ob er es dann war oder nicht, kommt dann später vielleicht raus, kommt differenziert raus oder hat gar nicht gestimmt. Aber damit ist es gesetzt und es wird dann sofort hunderttausendfach kommentiert, verschickt, geteilt und dann ist das für den Wähler eine gefühlte Wahrheit. Das, was die Leute fühlen, ist für sie oft auch Wahrheit - zumindest wird dies von der AfD so gesehen!

Interview von Leonie Disse, Nico Geyer, Daniela Engelbert, Susannah Hamkar, Emil Möller, Lea Matosevic, Maja Ristic, Kathrin Sziburies, P-Seminar, Wilhelm-Hausen- stein-Gymnasium, München

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