Süddeutsche Zeitung

Politikverdrossenheit:Wahlstudie in München: Der Wunsch nach einem Denkzettel

  • Eine Studie stellt Münchner Stadtpolitikern ein schlechtes Zeugnis aus: Fünf von sechs Bürgern glauben nicht, dass Politiker den Menschen zuhören.
  • Ein wichtiges Motiv für Nichtwähler ist zudem das Bedürfnis, Politikern einen Denkzettel zu verpassen.
  • Aber es gibt auch positive Ergebnisse: Mehr als die Hälfte aller Bürger glaubt daran, dass sie mit ihrer Stimmabgabe etwas erreicht.

Von Heiner Effern

Münchens Kommunalpolitiker lassen sich bei den Menschen in den Stadtvierteln viel zu selten blicken. Und wenn sie kommen, dann nur zu besonderen Anlässen. So empfinden das sechs von zehn Münchnern. Jeder dritte ist zudem davon überzeugt, dass das Hauptmotiv für einen Besuch bei den Bürgern nur der kurzfristige Stimmenfang ist. Ein vernichtendes Zeugnis stellen die Münchner ihren Stadtpolitikern in Sachen Sensibilität aus: Nur jeder sechste ist sich sicher, dass sie den Menschen zuhören und deren Sorgen ernst nehmen. Dieser massive Vertrauensverlust ist der Hauptgrund dafür, dass immer weniger Münchner wählen gehen. Dabei ließen sich durch mehr Kommunikation und Information vier von zehn Bürgern, die sich an der Kommunalwahl 2014 nicht beteiligt haben, beim nächsten Mal, im Jahr 2020, wieder an die Urnen locken.

So steht es in einer Studie, mit der die Stadt den Soziologen Werner Fröhlich von der Ludwig-Maximilians-Universität beauftragt hat. Er sollte untersuchen, warum immer weniger Münchner an Wahlen teilnehmen. Bei der jüngsten Bundestagswahl im September gaben zwar 78,4 Prozent der Berechtigten ihre Stimme ab, doch bei den Kommunalwahlen ist seit 1990 ein kontinuierlicher Niedergang zu verzeichnen: Im Jahr 2014 gingen mit 42 Prozent so wenige Münchner zur Wahl wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Über die Motive der Verweigerer soll die Studie Auskunft geben. Dafür wurden etwa 4000 Bürger nach dem Zufallsprinzip angeschrieben, 998 schickten eine Antwort. Offiziell vorgestellt wird die Untersuchung an diesem Freitag in einem Hearing im Rathaus, das die Fachstelle für Demokratie als Auftraggeberin der Studie organisiert. Der Süddeutschen Zeitung liegen die Ergebnisse bereits vor.

Aus diesen geht sehr genau hervor, welche Münchner den Wahlen fernbleiben: Sie verdienen relativ wenig, sind mit ihrer persönlichen Situation und der Demokratie unzufrieden, interessieren sich aber auch nicht besonders für Politik. Von sich selbst sagen die Nichtwähler, dass sie im Parteienspektrum eher rechts stünden. Tendenziell sind mehr von ihnen katholisch als evangelisch oder konfessionslos. Sie vertrauen der Politik kaum und fühlen sich schlecht und wenig verständlich informiert. Dieses Gefühl, vernachlässigt zu werden, ist ein Hauptgrund, warum sie nicht zur Wahl gehen. Als zweites starkes Motiv nennen sie das Bedürfnis, Politikern oder der bisher von ihnen gewählten Partei einen Denkzettel zu verpassen.

Der Soziologe Fröhlich ließ im Vorgriff auf die Kommunalwahl 2020 auch abfragen, welche Themen in München für Wähler und Nichtwähler wichtig sind. Ein enormer Unterscheid zeigt sich bei der Frage der sozialen Ungleichheit in der Stadt. Jeder dritte Nichtwähler findet es wichtig, diese zu beseitigen, aber nur jeder zehnte Wähler. Wenig überraschend sind die Themen, die in beiden Gruppen am häufigsten genannt werden: Wohnungsmangel und hohe Mieten sowie der Verkehr.

Erstaunliche Schwankungen zeigen sich bei allen Münchnern in den Bereichen soziale Ungleichheit und Sicherheit, die die Regierungsparteien SPD und CSU sehr häufig in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs stellen. Fröhlich arbeitete heraus, dass diese Themen in ihrer Bedeutung deutlich überschätzt werden. Er fragte dafür die teilnehmenden Bürger zuerst ohne jede Vorgabe, welche Themen für sie die wichtigsten seien. Danach gab er für die gleiche Frage feste Antworten vor. Beim Kampf gegen steigende Lebenshaltungskosten und dem Verkehr machte das kaum einen Unterschied, sie landeten beide Male an der Spitze.

Ganz anders sieht es bei den Themen Sicherheit und soziale Ungleichheit aus. Bei den Antworten ohne jede Vorgabe bezeichnete nur etwa jeder zehnte diese beiden Themen als wichtig. Waren sie zusammen mit anderen Kategorien vorgegeben, nannte sie fast jeder dritte als ein zentrales Anliegen. Und noch ein Vorurteil der Politik entlarvt die Studie: Dass sich die Programme der etablierten Parteien angeblich kaum voneinander unterscheiden, ist für Nichtwähler kein entscheidendes Kriterium, nicht zur Wahl zu gehen. Daran stören sich viel mehr Menschen mit hohem Bildungsgrad, die tendenziell häufiger wählen.

Nicht nur mit dieser Aufklärung versucht der Soziologe Fröhlich, den Politikern im Hinblick auf die Kommunalwahl 2020 auch Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Er liefert einige Ideen und auch ein paar ermutigende Ergebnisse in seiner Studie. Sechs von zehn Münchnern sehen die Möglichkeiten, sich in der Politik zu engagieren, positiv. Jeder zweite würde das tun, wenn in seinem Viertel ein größeres Projekt geplant würde. Und mehr als die Hälfte aller Bürger glaubt daran, dass sie mit ihrer Stimmabgabe etwas erreicht.

Damit Politiker bei Wählern punkten können, sollten sie regelmäßig in den Vierteln präsent sein - das wünschen sich sechs von zehn Bürgern. Allerdings gilt es, hierfür neue Formate zu entwickeln: Mehr als die Hälfte lehnt einen Besuch an der Haustür ab. Studien-Autor Fröhlich schlägt vor, dass Stadträte in stets wechselnden Vierteln im Monatsrhythmus offene Fragestunden oder Diskussionen mit Bürgern abhalten. Diese müssten neutral moderiert werden, anwesende Stadträte sollten klar Position beziehen. Reine Anwesenheit oder Anbiederei würden Frustration auslösen.

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Quelle:
SZ vom 20.04.2018/huy
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