Süddeutsche Zeitung

Politiker:Auf dem Oktoberfest wird keine Politik gemacht - oder doch?

Ministerpräsident Seehofer fordert jedes Jahr eine politikfreie Wiesn. Doch in Wirklichkeit werfen die Bundestagswahl und die Landtagswahl 2018 ihre Schatten voraus.

Von Heiner Effern und Franz Kotteder

Gebannt verfolgt die Delegation aus Münchens Partnerstadt Sapporo auf dem Bildschirm, wie Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) in roter Joppe, den Holzschlegel in der Hand, offensichtlich gleich auf ein Bierfass einschlagen will. Keinem fällt auf, dass er bereits "Ozapft is" in die Lautsprecheranlage der Schottenhamel-Festhalle gerufen hat, während er im Fernseher auf der Empore noch für den ersten seiner beiden Schläge ausholt.

Dabei hätten die Besucher aus Sapporo gleich ein Prinzip des Oktoberfests kennenlernen können: Die selber wahrgenommene und die tatsächliche Realität fallen hier schon mal auseinander. Das gilt auch für das Gesetz, das Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) erneut erlässt, als er auf der Empore eintrifft: "Auf der Wiesn wird keine Politik gemacht."

Stimmt natürlich. Und stimmt natürlich nicht. Wenn sich nach dem Anzapfen in der Ratsboxe auf der Empore die Politprominenz aus Stadt und Land drängt, macht niemand offen Wahlkampf. Aber jedes Wort und jede Geste wird interpretiert, eine Woche vor der Bundestags- und ein Jahr vor der Landtagswahl. Dass Seehofer überhaupt die Stufen von der Anstichbox zur Empore heraufkommt, wird genau registriert. Schließlich ist er vergangenes Jahr sofort ins Hofbräuzelt abgedampft, zum Anstich des Wiesnbiers mit seinem Finanzminister Markus Söder (CSU). Das habe er vorab einvernehmlich mit Reiter abgesprochen, erklärt Seehofer am Samstag. Ob er mit dem roten OB nicht auffällig oft im Einvernehmen handle? "Eigentlich immer", sagt der schwarze Ministerpräsident. "Und umgekehrt. Wir haben eine Wellenlänge."

Das sitzt, Seehofers Münchner CSU-Kollegen werden es mit gedämpfter Freude hören. Dabei ist eigentlich Tauwetter zu verzeichnen, nach den eisigen Tagen des ersten halben Jahres. Seehofer unterließ da nichts, um den CSU-Bezirk und dessen Chef Ludwig Spaenle zu triezen und vorzuführen, auch im Doppelpass mit Reiter. Doch kurz vor der Wiesn stellte der Ministerpräsident Spaenle völlig unerwartet eine Jobgarantie im Kabinett aus.

Also können die beiden auf der Wiesn Rücken an Rücken sitzen, ohne dass neue Verschwörungstheorien aufkommen. Man solle eh nicht zu viel hineindeuten, wie lange er mit wem spreche, sagte Seehofer. Die CSU definiere ihr Binnenverhältnis "nicht nach der Stoppuhr". Sollte Spaenles Miene unerfreut wirken, könnte das auch an der Mass Mineralwasser liegen, die vor ihm steht. Ist wenigstens ein Schuss Museumswein drin, den er erst am Montag der Öffentlichkeit präsentierte? "Nein, nein", sagt Spaenle, "das ist reines Wasser. Sozusagen die erste Stufe der Begeisterung."

Begeisterung? Bei der SPD ist da nicht so viel zu spüren, die Genossen schlagen sich vor der Bundestagswahl gezwungenermaßen mit verschiedenen Realitäten herum. Die Direktkandidaten verbreiten pflichtschuldigst Optimismus, der Rest verdreht gequält die Augen. Alt-Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) fürchtet ein "Desaster" am kommenden Sonntag. Das will Natascha Kohnen unbedingt vermeiden, sollte sie tatsächlich bei der Landtagswahl als Spitzenkandidatin für die SPD antreten. Mit ernsten Mienen stecken sie und der frühere SPD-Fraktionschef Franz Maget die Köpfe am Ehrentisch zusammen, kaum dass Seehofer gegangen ist. Ob sie sich Tipps holt von Maget? Der ist zur Wiesn extra für ein Wochenende aus seinem derzeitigen Wohn- und Arbeitsland Tunesien eingeflogen.

Die Grünen trotzen ihrer Umfrage-Realität ebenso tapfer. Katharina Schulze, Sprecherin der Fraktion im Landtag, hofft auf eine gute letzte Wahlkampfwoche und trägt dazu ihren Teil bei. Sie hat sich ein Werbe-Herz um den Hals gehängt, das ihre Vorgängerin und jetzige Bundestagskandidatin Margarete Bause verteilt. Klein, unauffällig, grün, sagt Schulze. Schon eine Prognose für die künftige Rolle ihrer Parteifreunde im Bundestag? "Oh, nein, das ist jetzt gemein", lacht sie. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) lässt sich die Laune auch nicht verderben und scherzt mit Horst Seehofer. Der muss sich natürlich fragen lassen, ob er schon eine Jamaika-Koalition (CDU/CSU, Grüne, FDP) kommen sehe. "Wenn's passt", sagt er knapp.

Als ungeliebte Realität geistert die AfD durch die Empore. Keiner kann so recht einschätzen, wie stark sie abschneiden wird. Die CSU fürchtet um Stimmen, die SPD ein hartes Jahr im Landtag, wenn die CSU der AfD bis zur nächsten Landtagswahl Paroli bieten will. Dem Gesichtsausdruck nach bespricht Seehofer mit Ilse Aigner jedoch Erfreulicheres, vielleicht gibt er ihr Tipps zum Anzapfen. Damit ist sie nämlich um 13 Uhr dran, im neuen Volkssängerzelt auf der Oiden Wiesn. Sie erledigt die Aufgabe nicht ganz spritzfrei in fünf Schlägen. Anscheinend hat sie OB Reiter nicht zugehört, was dieser mit astreinem bayerischen Komparativ kurz vor zwölf Uhr im Interview mit dem BR erklärt hatte: "Präzise ist wichtiger wie fest!"

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SZ vom 18.09.2017/imei
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