Als alle Stühle besetzt waren, holten die Helfer schnell noch Sitzkissen herbei, damit einige Besucher wenigstens halbwegs bequem auf dem Boden Platz nehmen konnten. Und trotzdem standen dann immer noch viele am Rand oder lehnten an der Wand, so groß war der Andrang bei zwei Podiumsdiskussionen zur bevorstehenden Bundestagswahl, die in dieser Woche in München anberaumt waren. Mit rund 100 Besuchern hatten die jeweiligen Veranstalter gerechnet, angemeldet und gekommen waren dann zwischen 150 und 200, genau gezählt hat dann keiner mehr.
Daraus lassen sich zwei Dinge ableiten: Das Bedürfnis scheint hoch zu sein, sich über die Vorhaben der Parteien zu informieren. Aber noch größer scheint das Bedürfnis zu sein nach einem friedfertigen Umgang in Politik und Gesellschaft. Offensichtlich haben doch sehr viele Menschen gerade genug von Krawall und Streit. „Es wäre schön, wenn der ganze Bundestagswahlkampf so regelbasiert und in sachlichem Ton abläuft“, resümierte der 21 Jahre alte Student Julian nach der Diskussionsrunde in der Bibliothek des Literaturhauses.
Die war explizit von jungen Menschen für junge Menschen gedacht und gemacht. Studopolis nennt sich der noch neue, in Traunstein eingetragene und in Ampfing ansässige Verein, dessen Mitglieder am Dienstag erstmals eine Veranstaltung in München organisiert hatten. „Neue Ära, neue Agenda – Deutschlands Wirtschaft nach der Wahl“ lautete das Motto des Abends. Und für den hatten sich die jungen Leute auch gleich ein neues Format ausgedacht.
Zwei Tage später im Café Luitpold, quasi um die Ecke vom Literaturhaus in der Brienner Straße, wurde nach herkömmlichem Muster debattiert. Da hatte das etablierte Bündnis Pro-Europa Netzwerk vier Bundestagskandidaten aus München und Umgebung eingeladen, mit den Abgeordneten Anton Hofreiter (Grüne) und Wolfgang Stefinger (CSU) an der Spitze. Eine Moderatorin befragte sie sowie die Bewerber von SPD und Volt, David Rausch und Alexandra Lang, zur Bedeutung der Bundestagswahl für Europa. Am Ende durfte auch das Publikum Fragen stellen.
Im Literaturhaus hatten die Studopolis-Leute ihrer Diskussionsrunde ein Briefing zum Thema vorangestellt, eine kurze Einführung mit den Schwerpunkten Investitionsbedarf, Schuldenbremse, Rentenreform, Fachkräftemangel und Zukunftsvisionen. Dafür hatten sie die Wirtschaftswissenschaftlerin Monika Schnitzer gewonnen, Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Vorsitzende des Sachverständigenrates, der gemeinhin unter dem Begriff „die Wirtschaftsweisen“ bekannt ist.
"Eine überparteiliche Plattform zu schaffen" sei der Grundgedanke
Ebenso hochrangig war dann die Runde der fünf Diskutanten: Die Christsozialen hatten ihren Generalsekretär Martin Huber geschickt, SPD und Grüne ihre bayerischen Spitzenkandidaten Carsten Träger und Jamila Schäfer, FDP und Volt immerhin die Drittplatzierten ihrer Landeslisten, Susanne Seehofer und Anna Schwarzmann.
Eingeladen hatten die Macher von Studopolis freilich alle größeren Parteien, aber von AfD, Freien Wähler, BSW und Linken war niemand gekommen. „Unser Grundgedanke ist, eine überparteiliche Plattform zu schaffen und dabei immer die Tür offen zu lassen für alle“, erklärte Katharina Schindler, die mit ihrem Kollegen Hans Hinrichsen den Abend moderierte: „Es sind alle willkommen, solange man sachlich miteinander reden kann.“
Hinrichsen hatte zu Beginn der Gesprächsrunde appelliert, respektvoll miteinander umzugehen – und daran hielten sich tatsächlich alle, auch die Besucher, die unmittelbar nach jedem der vier Themenblöcke, die in unterschiedlichen Besetzungen behandelt wurden, Gelegenheit hatten, Fragen zu stellen.
Diese Atmosphäre wurde von allen Anwesenden goutiert, den Podiumsteilnehmern ebenso wie dem Publikum. „Es wurde nicht laut, nicht emotional, es wurde zugehört, auch wenn es in manchen Punkten andere Auslegungen gab. Das war sehr angenehm“, bilanzierte der Volkswirtschaftsstudent Julius, 21. „Das hat alles gut gepasst“, fand der SPD-Mann Träger: „Wo sonst erwischt man so viele junge Menschen, die offen sind für einen Austausch?“ - „Ein tolles Format“, pflichtete die FDP-Frau Seehofer bei. „Es macht es schwer, sich mit populistischen Phrasen rauszureden, und bietet wenig Raum für eine Ablenkungsdebatte“, fand die Grünen-Abgeordnete Schäfer.
Dass die Moderatoren gut recherchiert hatten und hartnäckig nachfragten, fand selbst Anna Schwarzmann gut – „auch wenn’s in einem Fall mich getroffen hat“. Bei ihrer Premiere auf einem Diskussionspodium musste die Volt-Politikerin passen, als sie gefragt wurde, wie genau sich ihre Partei denn den Staat als Risikokapitalgeber von Innovationen vorstelle. Diesen Unterpunkt hatten die Moderatoren auf Seite 54 von 164 des Volt-Wahlprogramms entdeckt.
Der Politik-Profi Martin Huber von der CSU redete indes routiniert über kritische Stellen hinweg. Zum Beispiel als es um die Migrationspolitik seiner Partei ging und die von der Wirtschaftsweisen Schnitzer eingangs genannten Zahl von 400 000 Zuwanderern pro Jahr, die nötig seien, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Als es ums bayerische Bildungssystem sowie Wahlgeschenke in Form von Mütter- und Witwenrenten ging, wurde Huber indes gleich zweimal von Susanne Seehofer gestellt und mit wissenschaftlich fundierten Aussagen konfrontiert. Unter anderem mit einer, die zuvor von Monika Schnitzer präsentiert worden war.
„Mit dem Vortrag von Professorin Schnitzer zu starten, fand ich schon gut“, sagte dann auch einer ihrer Studenten, der 23 Jahre alte Christoph. Da habe man bei den Vorträgen der Politiker und ihrer Wahlprogramme „quasi ein Fact-Checking live“ machen können.