Süddeutsche Zeitung

Planegg:Widersprüche und Wendungen

Pierre-Carl Link hat sich bereits für ein Klosterleben im Augustinerorden entschieden, als er einen Rückzieher macht. Stattdessen tritt der 32-Jährige demnächst eine Professorenstelle für Heilpädagogik in Zürich an

Von Katja Gerland

Es hat sich einfach nicht richtig angefühlt, in einer Nacht im September 2020, kurz nachdem Pierre-Carl Link ein drittes Mal "Ja" gesagt hatte. Er hatte sich erneut für den Augustinerorden entschieden, das Klosterleben und die Bruderschaft. So, wie man es als Novize einmal jährlich eben tut, bevor man sich nach einigen Jahren endgültig dem Orden anschließt. Link bescherte dieses dritte "Ja" eine schlaflose Nacht, ein Nachdenken über seine Zukunft, und sorgte letztlich dafür, dass er seine Entscheidung revidierte.

Das erzählt er an einem sonnigen Spätsommertag, ein Jahr später, in Maria Eich. Und im Gegensatz zu dem Moment, an den sich Link gerade zurückerinnert, könnte es an dem Wallfahrtsort in Planegg wahrlich nicht friedlicher sein. Die hohen Bäume tunken den Ort in ein sattes Grün, die Stille wird nur von Vogelgezwitscher unterbrochen. Und auch bei den Besuchern, die vor der Wallfahrtskirche Platz genommen haben, ist keine Hektik zu spüren.

Für Link, der etwas versteckt auf einer der vielen Holzbänke sitzt, ist Maria Eich nicht nur ein Ort, um abseits des Großstadttrubels Ruhe zu finden. "Es ist Teil meiner Geschichte", sagt er, die Beine übereinandergeschlagen, der Blick nach vorne gehend. Dort, sein Zeigefinger richtet sich auf die Wallfahrtskirche, habe er Gottesdienste gemeinsam mit seinen Ordensbrüdern ausgerichtet. Auf dem Platz davor in seiner Mönchskutte das Laub gefegt. Ein Stück weiter links, wo sich ein Wohnhaus anschließt, geschlafen, gegessen und seinen Alltag unter den Brüdern des Augustinerordens verbracht. Im Winter 2018 kam Link als Bruder Damian nach Maria Eich, um dort sein erstes Novizenjahr zu verbringen. Im November 2020 hat er die Augustiner verlassen.

Raus aus dem Orden und rein in die Wissenschaft. An diesem Tag ist Link von Zürich angereist, wo er zu diesem Wintersemester seine Professorenstelle antritt. Der 32-Jährige unterrichtet und forscht im Bereich der Heilpädagogik. Einen einzelnen Grund für diese Neuorientierung zu nennen, fällt ihm schwer. Wenn er seinen Ordensaustritt erklärt, geht es um Vieles. Es geht um die Lebensweise der Augustiner, die nicht seinen Vorstellungen entsprach, seiner Leidenschaft für die Wissenschaft - und um den Mut, an den Gabelungen des Lebens hin und wieder die unsichere Abzweigung zu nehmen. Und wenn man den Lebenslauf des 32-Jährigen betrachtet, wirkt es so, als sei er darin schon geübt.

Mit 18 Jahren, erst kurz nachdem er sich als schwul geoutet hatte, ließ er einen Studienplatz in Medizin für das Priesterseminar in Freiburg sausen. Den Traum, in seinem Beruf Menschen "vom Baby bis zum Greis" zu begleiten, damit vorerst auch. Dennoch sagt Link heute: "Das Seminar war mir damals einfach näher." Schließlich sei es in seiner Arbeiterfamilie fast schon Routine gewesen: "Wenn jemand überhaupt studiert, dann wird er Pfarrer." Zwei Jahre später, im Jahr 2010, kehrte er dem Seminar den Rücken. Zu schwer beschäftigten ihn die zu der Zeit ans Licht kommenden Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Und schnell kamen die Zweifel: "Wäre nicht doch der wissenschaftliche Weg der richtige gewesen?" Also zog es Link doch an die Universität. In Würzburg schloss er in den darauffolgenden Jahren gleich mehrere Studiengänge mit dem Masterabschluss ab - Philosophie und Pädagogik - und arbeitete an der Universität als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Das Universitätstreiben sei "wunderbar" gewesen, sagt Link. Doch ganz abgeschlossen hatte er mit der katholischen Kirche nicht. 2015 lernte er mitten im Studentenleben den Augustinerorden in Würzburg kennen - und erlebte eine ganz andere Seite der Kirche als die im Priesterseminar: "Das war ein Kirchenraum, in dem ich richtig frei atmen konnte." 2017 folgte der Umzug in das Würzburger Augustinerkloster - noch während er zusätzlich den Master in Theologie und Religionswissenschaften absolvierte.

Es wirkt wie die perfekte Symbiose aus Wissenschaft und Religion, das muss auch Link hier auf der Bank in Maria Eich zugeben. Für ihn aber wurde die Belastung immer größer. Zu sehr habe er sich damals über seine akademischen Erfolge, über den Zuspruch seiner Professoren definiert. Und so sei er vor der nächsten Gabelung gestanden: "Bleibe ich an der Uni oder mache ich einen Cut?" Er entschied sich gegen die Wissenschaft und sagte das erste Mal "Ja" zum Mönchsdasein im Augustinerorden. In einer Winternacht, in der der Vollmond, so Link, den Schnee geradezu glitzern ließ, kam er dafür nach Maria Eich. "Es war bezaubernd", erinnert er sich. Und auch das Ordensleben abseits der leistungsgetriebenen Unikarriere sagte ihm erst einmal zu. Doch da sei schnell ein ungutes Gefühl gewesen, das ihn in seiner Zeit in Planegg begleitete. Link spricht mit Bedacht, kein Satz scheint unüberlegt, und immer, wenn ein Spaziergänger ihn passiert, senkt sich seine Stimme etwas ab. Seine Erinnerungen an die Zeit in Maria Eich sind keineswegs nur positiv geprägt; sie sollen wohl nicht jedes Ohr erreichen. "Dort kann man frei denken, aber immer nur im Rahmen des Ordens", sagt Link. Frei denken, das hat ihm bei den Augustinern an mehreren Enden gefehlt - auch hinsichtlich Liebe und Partnerschaften. Seine Sehnsucht nach der "Endkonsequenz", einer festen Beziehung, habe er immer gespürt. Abstinenz predigen und seinen Bedürfnissen dann hinter geschlossenen Türen nachgehen - ein solches Doppelleben habe er, das betont Link, jedoch in keinem Fall führen wollen.

Und dann war da auch immer die wissenschaftliche Sicht auf Dinge, das Hinterfragen und Weiterdenken, an dem es dem Orden in seinen Augen gemangelt habe. Mit ganzem Herzen sei er nach seinem Novizenjahr deshalb nicht mehr im Orden gewesen - das konnte auch ein weiteres Jahr bei den Augustinern in Erfurt nicht ändern, indem er sich seine Zeit in Kirche und Universität einteilte. "Ich habe gemerkt: Hier kann ich mich nie ganz der Wissenschaft widmen." Gefühle, die sich zuspitzten, als es um ein drittes Jahr bei den Augustinern, das dritte "Ja" für den Orden, ging.

Links Geschichte ist eine voller Wendungen. Doch woher kommt seine Entscheidungsfreude in Momenten, in denen andere die Veränderung wohl bequem umgehen würden? Ungewöhnlich sei das nicht für ihn, sagt Beate Egenberger am Telefon. Die 59-Jährige gehört schon seit Links Kindheit zu seinem Umfeld, sie ist eine gute Freundin und Mentorin, und sie weiß: "Er ist schon immer ins kalte Wasser gesprungen, wo andere am Ufer bleiben würden." Somit war es wohl Routine, als Link im September 2020 seinen vorerst letzten Sprung ins kalte Wasser tat. Sein drittes Bekenntnis für den Orden revidierte er, verließ die Augustiner - für die Wissenschaft und die Liebe. Sein Lächeln kann Link nicht verbergen, wenn er sagt: "Ich habe beides wiedergefunden."

Er bewarb sich - seine Doktorarbeit noch nicht einmal anerkannt - in der Schweiz um eine Professorenstelle. Einen solchen Posten ohne Titel vor dem Namen zu bekommen, sei in der Schweiz zwar möglich, angesichts der Konkurrenz aber unwahrscheinlich, so Link. Dennoch ging er aus dem Vorstellungsgespräch mit einem neuen Job. Sein Partner, den er nach seiner Ordenszeit kennengelernt hat, sei ihm in die Schweiz gefolgt. "Ich will dort Wurzeln schlagen", sagt der 32-Jährige. Ein Happy End, das in Zukunft ohne Sprünge ins kalte Wasser auskommt? Die Kirchentür hält sich Link jedenfalls weiterhin offen: Für die Altkatholiken ist er in Zürich ehrenamtlich als Seelsorger tätig.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5430879
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 06.10.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.