Süddeutsche Zeitung

Kunstprojekt:Mach dir dein eigenes Bild

Lesezeit: 4 Min.

Münchner Jugendliche aus allen möglichen Kulturen gestalten klassische Gemälde neu. Jeweils zu zweit fragen sie sich, was diese mit ihrem Leben zu tun haben - dabei lernen sie sich gut kennen.

Von Jonathan Fischer

Wäre Malyun aus Somalia je auf die Idee gekommen, eine der Pinakotheken zu besuchen? "Nein", sagt die 20-Jährige, blitzende Augen und ein breites Lächeln unter dem traditionellen Kopftuch, "niemals". Nun bleiben ihr nicht nur Albrecht Dürers Selbstbildnis oder Giovanni Carianis Madonnengemälde im Gedächtnis. Sie hat sogar ein Lieblingsbild gefunden: "Ich liebe die Bäume, sie erinnern mich an meine Heimat", sagt Malyun und zeigt auf René Magrittes "Spectacle de la nature". Das diente ihr als Vorlage für ein eigenes Kunstwerk, eine surrealistisch anmutende Foto-Montage: Wo bei Magritte ein Vorhang den Blick auf Bäume in menschenleerer Landschaft freigibt, hat Manyun sich selbst ganz groß ins Bild gesetzt.

Ihr Rock besteht aus Laub, über ihrem Kopf schwebt ein riesiger grauer Hijab, ein Kopftuch. Eine Interpretation aus feministischer Perspektive? Ein Kommentar zur Kopftuchdebatte? Oder ganz einfach die künstlerische Inszenierung eines Gegenstands, der für die 20-jährige Somalierin ihre Würde repräsentiert? Malyun lächelt vielsagend. "Mit dem Kopftuch soll das jeder halten, wie er will", sagt sie. Und dass sie so froh sei, endlich deutsche Freundinnen gefunden zu haben. Für die Menschen von Youthnet bedeutet das: Ziel erfüllt.

Denn neben all den fabelhaften Kunstwerken, die 22 junge Münchner mit und ohne Fluchthintergrund derzeit in der Pinakothek der Moderne präsentieren, ging es beim Youthnet-Projekt "Wir sind Kunst!" vor allem um das Miteinander. Ist nicht ständig die Rede von Integration, vom Austausch der Religionen, von der Notwendigkeit, aufeinander zuzugehen? Das Netzwerk Youthnet München gibt hier seit drei Jahren mutige Antworten - jenseits rhetorischer Sprechblasen, durch praktisches Handeln. Die Teilnehmer rekrutierte es auch diesmal an Münchner Schulen, in Flüchtlingsprojekten, christlichen und jüdischen Gemeinden. "Wir beweisen mit jedem neuen Durchlauf, dass eine tolerante Gesellschaft möglich ist", sagt die Initiatorin Eva Rapaport, deren Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg selbst als Flüchtlinge nach München kamen. Im vergangenen Jahr porträtierten sich unter dem Titel "Zeig mich!" junge jüdische, christliche und muslimische Münchner gegenseitig; diesmal ging es auch um eine Auseinandersetzung mit abendländischer Kunst. Und darum, klassische Gemälde im Sinne eigener Erfahrungen neu zu gestalten.

Genau das taten die Jugendlichen von "Wir sind Kunst!" mit zum Teil erfrischender Respektlosigkeit. "Vollkommen offen", schwärmt Pia Brüner, für Kunstvermittlung in der Neuen Pinakothek zuständig, hätten die Teilnehmer die Gemälde als Fragen an sich selbst aufgefasst. "Das beweist, dass jeder, unabhängig vom Hintergrund, etwas mit Kunst anfangen kann."

Mit zugelosten Partnern machten sich die Jugendlichen an die Arbeit: Welches Bild spricht zu mir? Wie verbindet es sich mit meinem Alltag, meiner Biografie? Was verändere ich - mithilfe von Photoshop -, um meine eigene Botschaft hineinzulegen? Dazu gehörten auch gegenseitige Interviews. Raphael, ein 16-jähriger Münchner Gymnasiast, und sein Partner, der 18-jährige afghanische Informatiker-Lehrling Bahawuddin, zum Beispiel sagen, sie hätten ohne das Projekt wohl kaum eine Chance gehabt, sich jemals so nahe zu kommen. Jetzt hängen ihre zwei Bilder nebeneinander: Raphael hat Dürer auf dessen "Selbstbildnis im Pelzrock" ein Smartphone in die Hand gegeben und sich selbst als fotografierenden Gegenpart hineinmontiert. "Ein dreifaches Spiegel-Selfie" nennt er es und sagt: "Dürer würde heute auf Instagram posen." Die Effekte habe sein Partner beigesteuert - und umgekehrt. Bahawuddins Werk kombiniert zwei Schlachtengemälde von Albrecht Altdorfer und Peter Paul Rubens. Darüber sieht man Tauben und ein schreiendes Gesicht. "Wir haben diese Situation seit 40 Jahren in Afghanistan, deshalb musste ich mit meinen Eltern flüchten", erzählt Bahawuddin. "Es reicht!"

Der Krieg in ihrem Herkunftsland spielt bei vielen der Teilnehmer aus Afghanistan eine prägende Rolle. Etwa wenn Hasibullah in das Gemälde einer Madonna mit Kind die Sehnsucht nach seiner Familie hineinlegt. Oder wenn Habib sich ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner vor allem deshalb aussucht, weil darauf eine Brücke zu sehen ist: "Wenn wir da alle rübergehen könnten, würde es uns besser gehen." Er hat sein Selbstbildnis wie eine Banksy-Figur mit Herz-Luftballon ans Ufer gestellt. Wenn Politiker und Hetzer die Unterschiede dramatisieren, dann geht Youthnet den Gegenweg: Statt die verschiedenen Religionen und Ethnien der Teilnehmer direkt zu thematisieren, geht es erst einmal um menschliche Annäherung. In der Folge zerbröseln die Vorurteile. Ganz von alleine.

Mit seiner Partnerin Carmen, gesteht der Afghane, sei er zuerst vorsichtig gewesen: "Als Flüchtling ist man immer auf alle möglichen Reaktionen gefasst." Aber dann sei alles "cool" gewesen. Carmen sagt, Spiele und ein gemeinsamer Kletternachmittag hätten geholfen, sich kennenzulernen. Am besten aber: das Gruppen-Kochen. Einmal somalische Samosas, dann deutscher Apfelkuchen. Sie selbst steuerte ein Rezept ihrer brasilianischen Mutter bei: "Es hat so Spaß gemacht, dass wir angefangen haben, uns gegenseitig auf unsere Geburtstagsfeiern einzuladen." Für ihr Werk hat die Gymnasiastin Henri Manguins "L'allée" ausgesucht, ein typisches Frauenbild des 19. Jahrhunderts. Dessen gesichtslose Dame aber hat sie ersetzt: Jetzt lagern sich vier Mädchen - äthiopische, somalische und deutsche Projektteilnehmerinnen - leger in die Natur: "Sie kommen von verschiedenen Seiten", erklärt Carmen, "aber gehen zusammen in die Zukunft."

Dass junge Menschen, die ihre Freizeit sonst nie mit dem Betrachten alter Ölschinken zubrächten, ganz nebenbei an Kunstgeschichte herangeführt werden - für die Youthnet-Mitinitiatorin Sharon Bruck ist das auch nur eine Variante von "Integration". Muss man die Kunst mit so viel Elitärem befrachten? Warum sie nicht wie Street Art zu den Menschen bringen? Die junge Deutsch-Äthiopierin Sophie legt über eine Liebesszene eines ungleichen Paars von Rubens einen Rap-Text: "Ich bin ein Junge aus dem Viertel / du ein Mädchen aus der Stadt / zwischen Dreck und Gesocks / wo die Sonne niemals lacht." Und bei der Vernissage riss ein Hip-Hop-Song die Gäste unversehens aus der Sekt- und Häppchen-Seligkeit: Habib trommelte laut, seine Partnerin Lien tanzte zu ihrem Bild. Ein Kommentar, der ganz ohne Worte mehr Kraft ausstrahlte, als es alle schönen Reden davor vermochten.

"Wir sind Kunst!" - täglich im Raum Temporär 2 der Pinakothek der Moderne, bis 1. Mai 2019

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Quelle:
SZ vom 17.04.2019
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