Süddeutsche Zeitung

Pflegekraft gesucht :Ein Leben für Isabella

Eine Fünfjährige leidet an einer seltenen und lebensbedrohlichen Lungenkrankheit. Die Eltern, die sich rund um die Uhr um ihre Tochter kümmern, sind verzweifelt: Sie finden keine Pflegekraft, die die Familie unterstützen könnte.

Von Christiane Bracht, Karlsfeld

Sie ist das Zentrum der Familie: Isabella. Alle schauen zu der Fünfjährigen. Geht es ihr gut, geht es allen gut.

Sie genießt die Aufmerksamkeit, schneidet Grimassen, albert herum, die anderen lachen - doch nicht ganz unbeschwert. Angst und Sorge schwingen immer mit. Jeden Moment kann die Situation kippen, aus Spaß Ernst werden - lebensbedrohlicher Ernst. Isabella leidet an Surfactant-C, einer extrem seltenen Lungenkrankheit. Ohne zusätzlichen Sauerstoff kann sie nicht atmen. Deshalb hat das Mädchen einen dicken Schlauch im Hals, der an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist. Doch er sitzt locker. Beim Spielen oder ruckartigen Bewegungen rutscht er schnell mal heraus, manchmal auch unbemerkt. Zehn Sekunden später läuft Isabella blau an. "Nach 20 Sekunden werde ich nervös", sagt die Mutter. Nach 30 Sekunden wird es kritisch. Denn wenn man nicht schnell genug reagiert, drohen ernste Gehirnschäden, im schlimmsten Fall erstickt das Kind. Man müsse es sich vorstellen, "wie wenn wir mit dem Kopf unter Wasser getaucht würden und keine Luft mehr bekämen", erklärt Kristina P., nur dass Isabella nicht so lange durchhält wie gesunde Menschen. "Sie hat kein Volumen in der Lunge", erklärt der Vater.

Das Problem ist: Das Oberflächeneiweiß der Lungen ist nicht vorhanden. Es ist ein genetischer Defekt, der jedoch nicht vererbt ist. Die Eltern hoffen, dass sich die Krankheit im Laufe der Zeit ein wenig zum Bessern wendet. So dass Isabella vielleicht eines Tages nicht mehr bei jedem Atemzug auf die riesigen Sauerstoffflaschen angewiesen ist, die sie umgeben. Eine 45-Liter-Flasche, die so groß ist wie sie selbst, steht direkt neben ihr. Eine weitere ist kaum drei Meter davon entfernt.

Isabella wirft den Kopf nach hinten, verdreht die Augen, als wolle sie sagen: "Oh, mein Gott. Wie doof ist das denn."

"Wenn sie so Grimassen schneidet, habe ich immer Angst, dass es ernst ist", sagt Fritz P., den Blick fest auf die Anzeige des Pulsoxymeters gerichtet. Das Gerät piepst gelegentlich, zeigt an, wenn die Sauerstoffsättigung zu gering wird. Damit man sie sowohl in der Küche als auch von jedem Winkel des Wohnzimmers sehen kann, hat Fritz P. eine riesige Digitalanzeige an einer Wand angebracht, die bei Gefahr rot wird. In jedem anderen Zimmer auch. Der Pulsoxymeter gibt den Rhythmus vor, nach dem die Familie lebt.

Isabella hustet. Man spürt sofort die Anspannung der Eltern. "Wir haben zwei Schichten Pflege, kein Familienleben", sagt Fritz P. Er und seine Frau seien zwar ein gutes Team, einer schaut tagsüber nach der Kleinen, der andere wacht nachts am Bettchen. Denn auch im Schlaf kann der Schlauch in Isabellas Hals herausrutschen oder abknicken. Der neunjährige Sohn Kilian muss irgendwie selbst zurechtkommen.

"Irgendwann ist man ausgepowert", gibt der Vater zu. "Aber wir können nicht einfach aufhören."

Die beiden suchen händeringend nach einer Pflegekraft, die ihre Arbeit übernimmt - trotz schlechter Erfahrung. Denn zu den permanenten Ängsten um Isabella haben sich inzwischen große finanzielle Sorgen gesellt. Der Familie ist das Geld ausgegangen. "Aber die Krankenkasse weigert sich zu zahlen", sagt Fritz P.

Er war selbständig. Als Softwareentwickler für Medizinfirmen verdiente der 49-Jährige einst sehr gut. Mehr als vier Jahre hat die Familie nun von seinen Ersparnissen gelebt. "Das war meine Rentenversorgung", sagt er. "Jetzt ist nichts mehr davon übrig." Nun müsse er wieder arbeiten, um die Familie ernähren und die Miete zahlen zu können.

Auch für Kristina P. läuft die Elternzeit aus. "Eigentlich haben wir längst einen Job", sagt die 39-Jährige. Doch die Krankenkasse erkenne die Leistung der Eltern nicht an. Für Pfleger würde sie dagegen 300 000 Euro im Jahr zahlen. "Dabei wissen wir mehr als jeder Pfleger", sagen die Eltern. Fritz P. hat sogar während seines Studiums Medizin gehabt und kann ein Diplom vorweisen. "Der Krankenkasse reicht das nicht", sagt er verständnislos. Und was für die Eltern noch schlimmer ist: Finden sie keinen Pfleger, müsste Isabella ins Heim oder auf die Intensivstation.

Jeden Tag steht Fritz P. nun vor einer Klinik, mal im Landkreis Dachau, mal in München. Dort verteilt er Flugblätter, in der Hoffnung, vielleicht doch noch Pfleger für seine Tochter zu finden. Vor Corona sei es schon ziemlich aussichtslos gewesen, doch jetzt sei es nahezu unmöglich, sagt er entmutigt. In fast allen Krankenhäusern habe man ihn des Geländes verwiesen, ihm Hausverbot erteilt. Klar, habe er ein schlechtes Gewissen, gerade in dieser Zeit, in der auch die Kliniken auf jede Hand angewiesen sind, Krankenschwestern abzuwerben. Aber sie hätten einfach keine andere Wahl.

Das Problem ist auch, nicht jeder Pfleger kann den Job machen, sagen die Eltern. Das hätten sie in der Vergangenheit schmerzhaft erfahren müssen. "Wir hatten mal eine ausgebildete Intensivschwester", erzählt die Mutter. "Gleich am ersten Tag gab es einen Notfall. Statt Isabella zu helfen, saß sie nur starr da und konnte sich nicht rühren, nicht mal einen Notarzt rufen. Das Kind war schon ganz blau." Fritz P. kam jedoch noch rechtzeitig dazu, presste den Handbeatmungsbeutel der Kleinen ins Gesicht und pumpte.

Ein anderes Mal habe ein Pflegedienst eine Schwester geschickt, die, wie sich später herausgestellt habe, drogenabhängig war. Sie habe das Notfallmedikament von Isabella für sich entdeckt, erinnert sich Fritz P. "Eines Tages ist sie wie im Delirium getorkelt."

Die meisten anderen Pfleger gingen nach wenigen Tagen wieder, entweder trauten sie sich nicht zu, im Notfall schnell richtig zu entscheiden, oder ihnen sei die Verantwortung zu hoch gewesen, sagt der Vater. Erst gestern habe ein Pflegedienst, der zunächst Bereitschaft signalisierte, wieder einen Rückzieher gemacht. Die Krankenkasse hatte ihn vermittelt.

Erkundigt man sich beim Pflegedienst, woran das Problem liegt, heißt es: "Es müssen viele Parameter zusammengreifen." Offiziell will niemand etwas sagen, zu dem Fall schon gar nicht, aber für Kinderintensivfälle sei es wahnsinnig schwer, zu Hause eine Versorgung auf die Beine zu stellen. Es liege nicht an der Struktur, sondern am mangelnden Personal, so die Auskunft. Als Dienstleister müsse man mehrere Fachkräfte haben, die 744 Stunden im Monat dauerhaft zur Verfügung stehen, um eine Versorgung zu gewährleisten. Man gehe ja schließlich einen Vertrag ein und übernehme Verantwortung.

"Man kann sein Geld mit weniger Risiko woanders verdienen", sagt Fritz P. Die ausweglose Situation und die hohe Anspannung, der die Eltern jeden Tag ausgesetzt sind, zehren an ihren Nerven. Sie leisten die Arbeit von fünf Vollzeitpflegern und einer Halbtagskraft in ihrer Intensivstation zu Hause seit Jahren allein, ohne Entlohnung. "Nervlich fühlt man sich wie ein Feuerwehrmann, der aufs Klingeln des nächsten Alarms wartet", sagt Kristina P. "Ich kann schon nicht mehr schlafen." Sehr belastend ist für die Familie zudem, dass sie seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vor etwa einem Jahr das Haus praktisch nicht mehr verlassen kann. "Es ist wie ein Gefängnis", klagt die Mutter. Auch Sohn Kilian ist seither nicht mehr zur Schule gegangen. Er lernt zu Hause. Freunde darf er auch nicht treffen. Zu groß wäre das Risiko, Isabella anzustecken.

"Man hält uns hin", klagt Fritz P. In seiner Verzweiflung hat er inzwischen sogar das Jugendamt angerufen und ihnen gesagt, von Montag an sei das Kindeswohl gefährdet, wenn er arbeiten müsse. Denn allein kann Kristina P. die Pflege nicht stemmen. Ein Pflegeheim in München, das sich auf Kinder, die beatmet werden müssen, spezialisiert hat, habe die Aufnahme abgelehnt, da es keine Eins-zu-eins-Betreuung gebe, sagt der Vater. Er habe auch alle Bundes- und Landespolitiker angeschrieben - doch ohne Resonanz. Die Verzweiflung ist riesig.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2021
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