Süddeutsche Zeitung

Pflegebericht:In Münchner Heimen wird jeder Zweite ruhiggestellt

  • Laut dem jüngsten Qualitätsbericht der Münchner Heimaufsicht bekommen 51 Prozent der Bewohner in stationären Pflegeeinrichtungen Psychopharmaka.
  • Es häuft sich der Verdacht, dass Medikamente lediglich zur Ruhigstellung der Bewohner verabreicht werden.
  • Neue Richtlinien sollen Patienten jetzt besser schützen.

Von Stephan Handel

Als die Richterin ins Heim kam, schlief die Frau, um die es gehen sollte - aber nicht friedlich in ihrem Bett, sondern zusammengesunken, sitzend im Speisesaal, vor sich den vollen Teller mit dem Mittagessen, das schon lange erkaltet war. Die alte Dame muste kräftig geschüttelt werden, bis sie endlich wach wurde und die Richterin mit ihr reden konnte.

Der Sohn hatte das Betreuungsgericht auf den Zustand seiner Mutter aufmerksam gemacht: Sie versuchte wegzulaufen aus dem Heim, in dem sie lebte, sie wollte mit dem Rollator die Treppe hinab, stürzte, schlug sich einen Zahn aus - sie war in einem Zustand, in dem ein normales Wohnheim nicht mehr auf sie aufpassen konnte. Deshalb wollte der Sohn sie in einem geschlossenen Heim unterbringen. Die Richterin aber, die dies anordnen sollte, fand bei ihrem Besuch einen ganz anderen Missstand vor: Offensichtlich war die Frau mit Psychopharmaka ruhiggestellt worden, damit sie den Pflegern keine Arbeit mehr machte und sie weder sich noch andere in Gefahr bringen konnte.

Vor Jahren war die Fixierung von Heimbewohnern ein großes Thema in München; im Übermaß wurden sie ans Bett gefesselt, mit Gittern am Aufstehen gehindert. Diese Praxis - manchmal notwendig, oft aber nur zur Erleichterung der Arbeit für die Pflege angewandt - bekamen die Betreuungsgerichte gut in den Griff, auch weil die beteiligten Berufsgruppen sensibilisiert wurden dafür, dass es gute Gründe dafür braucht, einen Menschen seiner Freiheit zu berauben.

Stattdessen scheint sich nun eine andere Art breit zu machen, ältere Menschen ruhigzustellen: Laut dem jüngsten Qualitätsbericht der Münchner Heimaufsicht bekommen 51 Prozent der Bewohner in stationären Pflegeeinrichtungen Psychopharmaka. Im Gegensatz zur Fixierung ist die Ruhigstellung mit Medikamenten vom Gericht wesentlich schwerer zu beurteilen - die Beruhigungsmittel werden ja vom Arzt verschrieben, von einem Juristen ist der medizinische Sinn nur schwer zu überprüfen. Dennoch: Die häufigste Indikation bei der Verschreibung von Psychopharmaka lautet "Unruhe". In mehr als 40 Prozent wird diese Allerwelts-Diagnose angegeben - "zu viel, um es auf sich beruhen zu lassen", sagt Reinhard Nemetz, der Präsident des Amtsgerichts.

15 392 Menschen werden in München betreut, 3642 von ihnen kamen im vergangenen Jahr neu dazu. Für sie gelten nun neue Richtlinien, die verhindern sollen, dass Psychopharmaka ohne Kontrolle verabreicht werden: Der jeweils bestellte Betreuer muss einmal im Jahr beim Betreuungsgericht Bericht erstatten - und dieser Bericht muss nun nicht nur allgemeine Angaben über den Gesundheitszustand des Patienten enthalten, sondern auch den Medikationsplan, den der jeweilige Arzt erstellen muss.

"Diese Richtlinien sind kein Ausdruck des Misstrauens"

Anhand dieses Plans kann der Betreuungsrichter erkennen, ob eventuell zu viel Psychopharmaka gegeben wurden. Wenn sie nämlich nur dem Zweck dienen, den Betreuten am Verlassen etwa der Station zu hindern, dann ist das eine freiheitsentziehende Maßnahme, die vom Richter genehmigt werden muss. Sollte dieser Anstoß nehmen an der Medikation, dann kann er - nach informellen Gesprächen, etwa mit dem zuständigen Arzt - einen Verfahrenspfleger bestellen, ein Gutachten anfordern, die Betreuungsstelle der Stadt verständigen oder sogar dem zuständigen Betreuer eine Weisung erteilen.

"Diese Richtlinien sind kein Ausdruck des Misstrauens", sagt Gerichtspräsident Nemetz, "sondern das Ergebnis vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Gericht, Ärzten, Pflege und allen anderen Beteiligten". Im Fall der sedierten Seniorin im Speisesaal hatte die Neubeurteilung positive Folgen: Zwar kam sie in die geschlossene Abteilung eines Pflegeheims, die Beruhigungsmittel jedoch konnten um drei Viertel reduziert werden. Damit, so findet Nemetz, wurde dem Gesetz Genüge getan: "Das Mittel ist anzuwenden, das am wenigsten in die Menschenwürde eingreift."

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SZ vom 05.04.2017/eca/sim
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