Kritik:Wenn Menschen auf Menschen losgehen

Kritik: Eindrückliches Spiel mit Stimmunterstützung aus dem Orchestergraben: Richard Furman in der Titelrolle.

Eindrückliches Spiel mit Stimmunterstützung aus dem Orchestergraben: Richard Furman in der Titelrolle.

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Erschreckend relevant: Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" wird in Augsburg bejubelt.

Von Paul Schäufele, Augsburg

Unter denen, die 2013 auf den Straßen Londons "Ding-Dong! The witch is dead" jubelten, hätte keiner gedacht, dass die Besungene auf diese Weise wiederkehrt - als Mrs Sedley in Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes", die mit eiserner Thatcher-Frisur und grauem Kostüm auf Augsburgs Bühne im Martini-Park steht und über die Verfehlungen ihrer Nachbarn Buch führt. Mrs Sedley, charakteristisch nervös gesungen von Christianne Bélanger, ist nur eine der mit dramaturgischem Feinsinn gestalteten Nebenfiguren, an denen Dirk Schmedings Deutung kristallisiert. Es gibt keine Vergangenheit, die spurlos vergangen wäre.

So wird Peter Grimes geplagt vom Geist seines verunglückten Schiffsjungen. Richard Furman, der als Einspringer für Jacques le Roux engagiert wurde, wird seinerseits geplagt von einem Stimminfekt. Deshalb spielt er zwar auf der Bühne, eindringlich und den Ambivalenzen der Figur nachspürend, doch die Stimme kommt aus dem Orchestergraben, von Peter Marsh. Den Herausforderungen der Tenor-Rolle begegnet er mühelos, kann im ersten Akt den vom Gin beschwingten Chor niedersingen und trotzdem bei seinem letzten Auftritt die gebrochene Psyche in sensibel ausgefüllte Melodielinien übersetzen. Furman/Marsh als Grimes ist ein Gepeinigter, der ebenso gerne austeilt und den Dorfbewohnern eine Fixierung aufs Materielle vorwirft, an der er selbst teilnimmt.

In der tropfenden Ödnis wachsen die Aggressionen

Auch diese oft vernachlässigte Schicht des Werks legt Schmeding frei - Grimes möchte ein Bourgeois werden wie alle anderen, der Barfüßige möchte die weißen Stiefel tragen, die im marktradikalen Borough gerade en vogue sind. Und er möchte Ellen Orford heiraten, eine verwitwete Lehrerin und im einprägsamen Figurendesign der Augsburger Inszenierung (Kostüme: Britta Leonhardt) ein Mauerblümchen. Dafür singt sie sehr gut, mit Sally du Randts rund-weichem Sopran, der nicht ganz in die Tiefe reicht, aber mit der "Embroidery"-Arie im letzten Akt für einen der emotionalen Höhepunkte sorgt.

Wobei an affektiver Spannung im Fischerdorf kein Mangel herrscht, vielleicht gerade weil der Ort so trostlos ist, eine graue Felsformation, in das eine Art flaches Kneippbecken eingelassen ist (Bühne: Martina Segna). In der tropfenden Ödnis wachsen die Aggressionen bei den namenlosen Bewohnern des Ortes. Nicht genug ist dieser von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek einstudierte Opernchor zu preisen. Genau choreografiert stellt er den Mob dar, so extrem wie glaubwürdig, in klanglich abgestimmten Stadien der Erregung: als lustige Pub-Gesellschaft, blutdurstige Masse oder Gemeinschaft, die den grauen Alltag durch Gesang über die Zeitlosigkeit von Ebbe und Flut veredeln möchte. Sein Pendant findet der Chor in den exzellenten Philharmonikern unter Domonkos Héja, der den großen Orchesterapparat trotz heikler Akustik transparent zu machen weiß und damit die schillernden See-Bilder malt, die auf der Bühne bewusst vermieden wurden.

Denn auch wenn Schmedings Figuren eindeutig maritime Geschöpfe sind, die Augsburger Inszenierung behält eine Offenheit, die die Relevanz des Stückes nur vergrößert: Wenn Menschen auf Menschen losgehen, ist "Peter Grimes", 1945 uraufgeführt, das Stück der Zeit. Dafür und für eminente musikalische Qualität gibt es verdienten langen Beifall.

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