Performance-Kunst:Sinnliche Tiefseelenforscherin

Als Schauspielerin und Performance-Künstlerin lotet Marie Golüke Grenzen aus, vor denen viele zurückschrecken. Ihre Solo-Stücke kreisen um Themen wie Scham, Erotik und Instinkt

Von Stefanie Schwetz

Was kann ein Mädchen, das in Brandenburg aufwächst, vom Leben erwarten? "Alles, es kommt drauf an, wie neugierig man ist", sagt Marie Golüke, die ihre Kindheit und Jugend im langen Schatten der Hauptstadt auf dem Land verbrachte. Und was kann die Welt von so einem Mädchen erwarten? Alles, was irgendwie mit Theater zu tun hat. Die 28-jährige Performance-Künstlerin zeigt dies im April in München mit zwei Stücken, "Erotism" im Pepper Theater und "Shame" im Rationaltheater, das dort im März Premiere hatte.

Fremd ist Golüke in München nicht. Sie studierte an der LMU Theaterwissenschaft und trat als Darstellerin im Haus der kleinen Künste, im Rationaltheater, in der Pasinger Fabrik und an der Studiobühne auf. Bis 2009 aber wohnte sie im brandenburgischen Dahnsdorf, einem Ort, in dem erst seit diesem Jahr der Bus auch am Wochenende fährt. Golüke scheint diese Abgeschiedenheit schadlos überstanden zu haben. Keinerlei Anzeichen, die sie als Landpomeranze ausweisen. Umgekehrt aber auch keine schrillen Extravaganzen: mittellanges, rötliches Haar, Brille, dezente Goldkette, roter Lippenstift. Eine ganz normale Teenagerzeit habe sie verlebt, erzählt sie - mit Bravo, Fernsehserien und vielen Büchern. Und natürlich sei sie oft nach Berlin gefahren.

Als sie nach dem Abitur an die Münchner Uni kam, eröffnete sich ihr eine ganz neue Welt, ein Universum voller Theorien. Aristoteles, Schiller, Nietzsche waren die Protagonisten und das, obwohl die damals 20-jährige Marie eigentlich die Bühne erobern wollte. Acht- oder neunmal hatte sie da schon an verschiedenen Schauspielschulen vorgesprochen und wurde abgelehnt. Noch heute sei sie bei Castings total verkrampft, spüre diesen Druck, den Job bekommen zu müssen. Wenn sie live auf der Bühne stehe, sei das etwas anderes. "Dann gibt mir das Publikum den entscheidenden Kick."

Die Schauspielerei hatte es Marie Golüke schon zu Schulzeiten angetan, seit sie mit 15 das erste Mal mit der Theatergruppe des Gymnasiums auf der Bühne stand. "Meine Familie hat diese Begeisterung zuerst für einen Pubertätsscherz gehalten", erzählt sie. "Aber als meine Eltern gemerkt haben, mit welcher Hartnäckigkeit ich Schauspielerin werden wollte, hatten sie auch Vertrauen in mich." Geblieben ist aus dieser Zeit das Gefühl, sich immer allen gegenüber beweisen zu müssen. Das sei sehr anstrengend. Den Eindruck, sie hadere mit ihrer Herkunft, hat man indes nicht. Marie Golüke ist weiter ihren Weg gegangen. Heute ist der Lebensmittelpunkt der Künstlerin Berlin, wo sie immer hin wollte, wo sie über intellektuelle, künstlerische und geografische Umwege am Ende gelandet ist, nach ihren Bachelor in München und dem Master in Performance Studies in Hamburg.

Seither sind Wissenschaft und Bühnenkunst für Marie Golüke nicht mehr auseinander zu halten. Im Zentrum ihres Interesses: "Sinn und Sinnlichkeit. Über die Darstellbarkeit von Erotik in der zeitgenössischen Performance-Kunst", heißt der Titel von Golükes Master-Arbeit, zu der sie mit "Transgression" auch eine eigene Performance beisteuerte, die sie 2014 auf dem Hamburger Kampnagel-Festival präsentierte. Nach solchen Aufführungen erlebt man sie aufgedreht, mit hellwachen Augen, auch wenn sie hundemüde ist. Ein Mensch, der das Leben aufzusaugen scheint, dem stets etwas Neues einfällt, das man im Dienste der Kunst auf die Beine stellen könnte. Man mag es kaum glauben, dass sie auf der Bühne oft mit nur wenigen Sätzen auskommt und fast ausschließlich den Körper sprechen lässt.

Überhaupt der eigene Leib. Er ist für die Performerin ein identitätsstiftender, seelisch-körperlicher Erfahrungsort. Golüke mag ihren Körper, seine Mulden und Rundungen, die Kraft, die von ihm ausgeht und die Feinfühligkeit, mit der er wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. Auf der Bühne wirkt ihre körperliche Präsenz sehr stark, gepaart mit einem fokussierten Blick ins Dunkel des Zuschauerraums. "Ohne Brille sehe ich ja ohnehin nichts", kommentiert Marie Golüke dieses Gefühl existenzieller Selbstgewissheit, das sich dort einstellt. Wenn sie sich wie in "Shame" vor den Zuschauern komplett entblößt und später nur mit einem weißen Herrenhemd bekleidet durch die Stuhlreihen streift, um mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, dann tut sie das wie jemand, der gerade aus der Dusche gestiegen ist und einen Mitbewohner fragt, ob noch Zahnpasta da ist. Ein ungezwungen-kumpelhafter Charme geht von dieser Frau aus.

Nun stehen in München, gefördert vom Kulturreferat, "Erotism" und "Shame" auf dem Programm, die ersten beiden Stücke einer Trilogie, die durch "Instinct" vervollständigt werden soll. Erotik und Scham, wuchtige Begriffe. Marie Golüke stutzt sie aufs Wesentliche, auf elementare Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, Freude, aber auch Sex und Macht. Atmend, schwitzend, sich windend und auf bewusste Weise selbst erlebend, durchläuft sie auf der Bühne einen Prozess, der das Ergebnis einer so theoretischen wie bildhaft-assoziativen schöpferischen Entwicklung ist und von Sätzen begleitet wird wie "Seid auf der Suche nach der optimalen Befriedigung" oder "die Erotik ist eine innere Erfahrung. Sie führt zu nichts".

28 Jahre alt, ohne Mann und Kind und immer unterwegs - das ist nicht das, was man sich im Brandenburger Land unter einem erfüllten Dasein vorstellt. Der Familie zu Hause in Dahnsdorf ist das, was Marie Golüke künstlerisch hervorbringt, immer noch ein wenig suspekt. "Theaterei" nennt der Opa die Kunst, die für die Enkelin Beruf und Berufung ist. Und dann ist da noch das "Festival für Freunde", das sie seit 2013 mit ihrem eigens dafür gegründeten Verein jeden Sommer in Dahnsdorf veranstaltet, mit Theater, Performance, Musik, Literatur, Fotografie, Film und Bildender Kunst. Vier Tage im Jahr, an denen sie zwei scheinbar gegensätzliche Aspekte ihrer Biografie zusammenführt und sich freut, wenn Installationskünstler aus Berlin mit Leuten aus dem Dorf ein Bier trinken.

"Erotism" am 5. und 6. April, 20 Uhr, im Pepper Theater, Thomas-Dehler-Straße 12; "Shame" am 26., 27. und 28. April, 20 Uhr, im Rationaltheater, Hesseloherstraße 18.

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