Jeder Altbau hat eine Geschichte zu erzählen. Mehr Auskunft als das Gemäuer selbst geben kann, bieten meist seine Bewohner. Die Schicksale der Menschen, die in der Münchner Goethestraße 54 lebten, in dem sich seit Mai das Interimsquartier der Villa Stuck, genannt VS, befindet, sind so vielfältig wie bewegend. In ihnen spiegeln sich nicht nur sämtliche Aspekte deutscher Geschichte von der Nazizeit bis heute inklusive Shoah, Zwangsarbeit und italienischer Arbeitsmigration in den Achtzigerjahren.
Die Vergangenheit des Hauses ist in Anbetracht von politischem Rechtsruck und zunehmendem Antisemitismus brisanter denn je, denn sie ist unmittelbar verknüpft mit jüdischem Leben in der Stadt vor und während des Holocaust. Dank des engagierten und recherchefreudigen Teams des Münchner Künstlerhauses treten immer mehr Facetten davon zutage. Durch Zufall seien sie hier gelandet, erzählt die Kuratorin Helena Pereña: „Wir wussten nichts über die Geschichte der Goethestraße 54.“ Diese auszugraben und sich mit dem Ort zu beschäftigen, an dem die Villa Stuck vorübergehend Heimat gefunden hat, sieht die Kunsthistorikerin als eine der wichtigsten Aufgaben des Museums.
An einem Freitagabend auf der Couch begann Pereñas intensive Internet-Suche zur Vergangenheit des neuen Interims, die sie fortan nicht mehr losließ. In nur zwei Monaten fanden sie und ihre Kollegen dank Archiveinträgen und der Online-Plattform „Mapping The Lives“ Erstaunliches heraus: Zwischen 1932 und 1945 beherbergte das 1887 erbaute Gebäude im Hochparterre die Pension Patria, in der enteignete jüdische Familien zeitweise unterkamen. Ein Zwangsraum und eine vorläufige Unterkunft, die als Zwischenstation zwischen Enteignung und Deportation genutzt wurde.
Rund 30 Biografien verfolgter Menschen recherchierte das Villa-Stuck-Team. Diese Lebensläufe, deren bloße Meldedaten von tragischen Lebenswegen, zerrissenen Familien, von Verfolgung, Vernichtung und in manchen Fällen auch einer Exilgeschichte erzählen, sind derzeit im Kontext einer kleinen, aber sehenswerten Ausstellung im VS-Interim neben zeitgenössischen Künstlerarbeiten zu finden. Die Beschäftigung mit der Historie ergab zudem: Während der NS-Zeit waren im selben Gebäude die Firmenräume des Bürobedarf-Herstellers Geha untergebracht, die nachweislich 95 Zwangsarbeiter beschäftigten und dafür bisher keine Entschädigungszahlungen leisteten.
Zu den Bewohnern des Hauses gehörten hauptsächlich besser situierte, ältere Menschen, darunter Ärzte wie Otto Bickhart, der hier bis 1933 eine Facharztpraxis für Magen- und Darmkrankheiten führte, der Kaufmann Emanuel Oppenheimer und die Unternehmerehepaare Bernheim und Sichel. Solche Pensionen hätte es mehrere in der Gegend gegeben, sie seien oft als „bessere Judenhäuser“ genutzt worden, so die Kuratorin. „Diese Menschen wurden nicht nur enteignet und zwangsübersiedelt, sondern mussten dafür auch noch zahlen – eine besonders perfide Logistik des Grauens.“ Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Hildegard Musch führte die Pension Patria von 1932 bis 1956. Mitglied in der NSDAP sei sie nicht gewesen und somit eher als „passive Täterin“ zu sehen, beschreibt Pereña die Wirtin, die laut einer Zeitzeugenaussage auch mal Juden half, einer Razzia zu entgehen.
Von 1935 bis 1937 kamen in der Pension auch Marie und Siegfried Bernheim aus Augsburg unter, die nach der Enteignung ihrer erfolgreichen Fabrik für chemische Produkte in München Zuflucht suchten. Über ihren Sohn Willy Bernheim, der kurz vor 1933 die Firma übernahm, ist dank seiner jüngst erschienenen Autobiografie mehr bekannt. Diese wurde von seinen Enkeln herausgegeben und im Rahmen der Beschäftigung der Villa Stuck mit ihrem Interimsquartier kürzlich vorgestellt.
„Was tue ich eigentlich in Meknes?“, erzählt die wilde und unglaubliche Lebensgeschichte von Bernheim
„Was tue ich eigentlich in Meknes?“, umfasst die wilde und unglaubliche Lebensgeschichte von Bernheim, der vor den Nazis nach Frankreich flüchtete, sich dort der Fremdenlegion anschloss, einige Zeit in Algier und Marokko verbrachte, um dann als Soldat der Division Leclerc erst Paris und anschließend sein Heimatland zu befreien. Sein Enkel Michael Bernheim glaubte lange Zeit selbst nicht daran, dass dieses alte Manuskript auf dem Dachboden seines Elternhauses Literatur sein könnte, wie er erzählt. Um so beeindruckender und schockierender lesen sich die Erinnerungen Willy Bernheims, der auch nach dem Krieg laut seinen Nachkommen ein problematisches Verhältnis zu seinem Geburtsland behält.
Das Gefühl der Heimatlosigkeit zieht sich nicht nur als roter Faden durch die 1946 verfassten Memoiren, es prägt auch die Schicksale der Pension-Patria-Bewohner und ist im Kontext jüdischer Identität nach wie vor präsent. Schon seine Urgroßmutter Marie, die 1944 in Theresienstadt starb, hätte immer gesagt, dass ein jüdischer Mensch nirgendwo richtig zu Hause sei, so Michael Bernheimer. „Ein bisschen was von dem Gefühl ist auch unter uns Geschwistern noch übrig.“
Mit der Veröffentlichung der Memoiren ihres Großvaters hätten er und seine Geschwister das Bedürfnis gehabt, diese Erfahrungen für die Nachwelt zu erhalten: „Wenn es meine Generation nicht macht, dann gibt es keinen mehr, der überhaupt noch einen Bezug hat.“ Die Gelegenheit, mehr von den Nachfahren der Bewohner der Goethestraße 54 zu hören, gibt es bei einem Gespräch an diesem Donnerstag mit dem Münchner Historiker Andreas Heusler, Michael Bernheim und Jörg Watzinger, Urenkel des Erbauers des Hauses.
Nachfahren im Gespräch. Mit Michael Bernheim, Jörg Watzinger und Andreas Heusler: Do., 25. Juli, 19 Uhr, VS, Goethestraße 54, Eintritt frei; Ausstellung „Was bisher geschah“: noch bis 28. Juli, Di. – So. von 12 bis 20 Uhr