Es war eine wilde, zerklüftete Zeit: Das 20. Jahrhundert, besonders seine erste Hälfte zwischen Spätromantik und Moderne, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Utopie und Dystopie. Einer, dessen Biografie und Kunst wie ein Spiegel für diese Zeit funktioniert, ist der Komponist Paul Ben-Haim. Der wird nun endlich auch in seiner Heimatstadt München präsenter. Die Musikhochschule hat ihr jüngst eröffnetes Forschungszentrum für jüdisches Musikleben in Süddeutschland nach dem in München geborenen und unter dem NS-Terror nach Israel emigrierten Komponisten benannt. Der Allitera-Verlag veröffentlich nun die erste deutschsprachige Monografie zu Paul Ben-Haim als 68. Band in der Reihe "Komponistinnen und Komponisten in Bayern".
Dieser neue Fokus ist nicht nur gerecht, sondern mehr eine Wiedergutmachung. Paul Ben-Haims Werk bekam nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nie die Aufmerksamkeit, die es eigentlich verdiente. Während die Musik von Carl Orff oder Richard Strauss zum festen Programm-Kanon gehört, leiden viele jüdische Komponisten immer noch unter dem Aufmerksamkeitsmangel, den die Nazis ihnen einst oktroyierten. Schon allein, dass dieses indirekte Nazi-Erbe mit solchen Veröffentlichungen durchbrochen wird, ist ausgesprochen wichtig.

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Doch nun zur Musik. Denn die ist bei Paul Ben-Haim auch eine Art ästhetische Verbindung der verschiedenen Stationen seines zerklüfteten Lebens. Denn während Paul Ben-Haim, 1897 als Paul Frankenburger in München geboren, in den Zwanzigerjahren in Deutschland noch einer spätromantischen Klangsprache nachging, wandelte sich sein kompositorisches Schaffen in Israel hin zu einer eklektischen und trotzdem sehr einnehmenden, unbedingt modernen, aber nicht zerstörerischen Musik.
Wesentlich dazu bei trug Ben-Haims Entdeckung der jüdischen Musik und dem daraus resultierenden Wunsch eine spezifisch israelische Musik zu schaffen. Paul Ben-Haim war ein Künstler, der an radikalen ästhetischen Neuerungen erst einmal gar nicht so sehr interessiert war. Doch wie wird ein in Deutschland geborenen und ausgebildeter Komponist zum israelischen Nationalkomponisten? Dieser Frage geht die nun erscheinende Monografie akribisch nach.
Paul Ben-Haim wurde als israelischer Nationalkomponist wahrgenommen
Unter dem Titel "Metamorphosen" steht der erste Text in der Monografie zu Ben-Haim. Tobias Reichard, Musikwissenschaftler und Leiter des Ben-Haim-Forschungszentrums in München, umreißt hier Ben-Haims Biografie und Werk grundlegend. Die titelgebende Wandlung - ästhetisch, räumlich, menschlich - ist dabei prägend für Ben-Haim. Sein Werk "Symphonic Metamorphosis" über einen Choral von Johann Sebastian Bach von 1968 dient Reichard als Blaupause: Ben-Haim habe hier bewusst das Wort Metamorphose gewählt anstatt der Variation, weil Variation Veränderung bedeute, Metamorphose aber Verwandlung. In der Verwandlung bleibt das Original stärker bestehen als in der Veränderung. Und aus diesem kleinen Absatz argumentiert Reichard heraus, warum Ben-Haim kein Avantgardist war, ja, die künstlerischen Mittel der Avantgarde sogar ablehnte und es ihm trotzdem "als einzigem Vertreter seiner Generation gelang (...), sowohl an der Bildung eines israelischen Nationalstils mitzuwirken, als auch jenseits der israelischen Landesgrenzen als israelischer Nationalkomponist wahrgenommen zu werden".
Paul Ben-Haims Vater war ein Rechtsanwalt, die Mutter eine Amateurpianistin. Mit 18 Jahren begann Ben-Haim an der Akademie für Tonkunst in München Klavier, Dirigat und Komposition zu studieren. Seine ersten Kompositionen zeigen sich von den damals vor allem in München aktuellen Strömungen beeinflusst: Richard Strauss, Gustav Mahler oder Franz Schreker. Nach seinem Studienabschluss 1920 wurde er stellvertretender Chorleiter und Korrepetitor unter Bruno Walter an der Bayerischen Staatsoper. Er schrieb Kammer- und Orchestermusik, wurde wenig später Kapellmeister und Chorleiter in Augsburg. Im November 1933, mit 36 Jahren, emigrierte er nach Israel.
Seine ersten Berührungspunkte mit jüdischer Musik hatte er in der Münchner Synagoge
Dem Menschen Paul Ben-Haim kommt man in dieser Monografie in einem Interview am nächsten. Das Gespräch führte Tamar Eden 1973 in Israel. Paul Ben-Haim erzählt sehr anekdotisch von seinem Leben. Darüber, dass Bruno Walter ihm erklärte, wenn er komponieren wolle, müsse er das nachts tun, tagsüber arbeite er an der Oper. Darüber, wie Max Reger über Richard Strauss' "Alpensymphonie" herzog ("So einen Dreck kann man nicht spielen") und auch als wie unhöflich Ben-Haim diese Äußerung empfand.
Ein zweites Interview gibt dann Einblick in Ben-Haims musikalische Einflüsse: seine ersten Berührungspunkte mit jüdischer Musik in der Synagoge in München, das musikalische Leben in Palästina in den Dreißigerjahren. Die darauffolgenden musikwissenschaftlichen Werkanalysen belegen die besonderen kulturellen Verschmelzungen in Paul Ben-Haims Musik. Ein abschließendes Interview mit der Geigerin Liv Migdal holt die Musik in die Aufführungspraxis der Gegenwart.
Man muss Lust haben mit dieser wissenschaftlicher Akribie in dieses Leben zwischen West und Ost, zwischen Tradition und Wandel (und eben explizit nicht Neuerung) einzusteigen. Doch dann öffnen Werk und Leben von Paul Ben-Haim einen erstaunlich schönen, ja beinahe utopistischen Ansatz, wie sich inmitten von Gräuel, Terror, Exil und Krieg etwas verbinden kann. Wie Linien zwischen Alt und Neu entstehen können, die nachvollziehbar bleiben, die nicht über Brüche funktionieren, sondern über einen Begriff, in dem eben auch etwas leicht Magisches liegt: Verwandlung.
Komponistinnen und Komponistinnen in Bayern. Band 68. Paul Ben-Haim, Allitera Verlag, 156 Seiten, 22,90 Euro, in Kürze im Handel