Patientenrechte:Wider Willen in der Psychiatrie

Auf dem Papier ist die Sache ziemlich eindeutig: Gegen ihren Willen dürfen Menschen nur dann in eine psychiatrische Klinik gebracht werden, wenn sie sich selbst oder andere akut bedrohen. Darüber entscheidet ein Richter. In der Praxis ist das oft schwierig. Häufig müssen Polizisten entscheiden, also medizinische Laien.

Florian Fuchs und Stefan Mühleisen

Wie die Situation anfing, weiß Joseph K. nicht mehr genau. Der Schock hat die Erinnerung verwischt. In sein Gedächtnis eingebrannt hat sich die Fahrt im Krankenwagen. Die Wehrlosigkeit, mit Handschellen gefesselt auf der Trage zu liegen. Die Panikattacke, als Polizisten und Pfleger ihn in der Klinik drängen, sich "freiwillig" ins Bett zu legen. Die Ohnmacht, als die Gurte klicken und ein Beamter sagt: "Machen Sie keine Schwierigkeiten." Dann die Einsamkeit. Stunde um Stunde spricht niemand mit ihm, bis plötzlich ein Pfleger kommt und ihn auffordert: "Schlucken Sie das!" Joseph K. ist froh, dass überhaupt jemand mit ihm redet.

Bundeskriminalamt (BKA)

Zwei Beamte im Job: Der Verdächte wird gefesselt.

(Foto: dapd)

Die 600 Zuhörer im Saal schweigen betreten, als Gottfried Wörishofer diese Patienten-Geschichte vorträgt. Er ist Geschäftsführer des Vereins Münchner Psychiatrie-Erfahrene, einer Selbsthilfegruppe psychisch Kranker. Wörishofer schildert den Fall Joseph K. als Beispiel. "Diese Menschen sind schwer krank, keine Schwerverbrecher", sagt er.

Ein Vormittag im Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar. Im großen Saal des Gesellschaftshauses drängen sich die Besucher zur Fachtagung "Unterbringung und rechtliche Betreuung in der Psychiatrie". Großer Andrang für ein schwieriges Thema. Ärzte, Pfleger, Sozialpädagogen und Juristen diskutieren, ob und wie Zwangsmaßnahmen im Umgang mit Psychiatrie-Patienten angebracht sind.

Nach vielen Vorträgen wird klar: Lange wurde über das schwelende Problem geschwiegen, jetzt soll die Systemfrage gestellt werden. Kliniker, Patientenverbände und Juristen wollen sich nicht mehr damit abfinden, dass ein Gesetz es Polizisten - also medizinischen Laien - erlaubt, psychisch Kranke im Handumdrehen in die Klinik zu verfrachten. Doch nicht nur diesen Hoppla-Hopp-Freiheitsentzug mit anschließendem Ruck-Zuck-Gerichtsurteil empfinden die Teilnehmer als unerträglich. Auch prangern Betroffene wie Wörishofer die nach seiner Darstellung gängige Praxis an, Kranke wie Kriminelle zu behandeln.

Ausgangspunkt der Debatte ist das bayerische Unterbringungsgesetz. Wer psychisch krank ist und dadurch sich selbst oder "in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung" gefährdet, heißt es dort etwas schwammig, kann gegen seinen Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht werden. Das Gesetz erlaubt es der Klinik, ihn bis zum Folgetag festzuhalten und erst im Nachhinein einem Richter vorzuführen, der die Behandlung juristisch absegnet.

Hohe psychische Belastung

Werktags, zu normalen Bürozeiten, sind Fachleute in den Kreisverwaltungsbehörden zuständig; sie kümmern sich um den Gerichtsbeschluss, wenn jemand gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen werden soll. Es sind Menschen, die durch ihre Krankheit sich selbst oder andere gefährden. Die Bandbreite ist weit: Heroinsüchtige, die im Entzug aggressiv werden, Manisch-Depressive, die ihre Umgebung mit wahnwitzigem Verhalten bedrängen.

In den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende aber sind Polizisten die Entscheider. Ambulante Krisendienste sind zu dieser Zeit nicht verfügbar. Nach einem Bericht des Polizeipräsidiums München im Gesundheitsausschuss des Münchner Stadtrats vom Mai waren Streifenpolizisten im vergangenen Jahr bei 3188 Einsätzen mit psychisch kranken Personen konfrontiert; 2010 waren es 2994 Einsätze. "Nur in den wenigsten Fällen", so heißt es in dem Bericht, verfüge die Polizei über ausreichende Informationen hinsichtlich Erkrankung und Vorgeschichte. Das bringe für die Beamten eine hohe psychische Belastung mit sich.

Die Polizisten sehen sich in diesen Situationen unvermittelt schreienden Psychotikern, verzweifelten Selbstmördern, fauchenden Schizophrenen gegenüber. "Der Beamte trägt die volle Verantwortung", sagt Karl-Heinz Schilling. Der Leiter der Polizeiinspektion in Haar betont, dass die Beamten primär die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abwenden müssten. Schilling selbst hat - er ist seit 30 Jahren Polizist - schon viele solcher heikler Situationen erlebt. Er musste dann verantworten, einem Menschen ohne Gerichtsbeschluss die Freiheit zu entziehen, notfalls unter Zwang.

"Sozialer Schock"

Genau diese große Bürde für Polizisten kritisieren die Fachleute. "Das Unterbringungsgesetz ist sehr alt und ein reines Polizeirecht, das den Fokus ohne Kompromisse auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit legt. Das muss sich ändern", sagt Bernhard Knittel, früher als Richter am Oberlandesgericht tätig. In anderen Bundesländern wie Thüringen ist eine Fachbehörde zwischengeschaltet, wenn psychisch Kranke gegen ihren Willen eingewiesen werden, auch an Wochenenden, Feiertagen und nachts.

"Weil Polizisten den Umgang mit Kranken nicht gelernt haben, greifen sie oft zu Mitteln des Zwangs", sagt Wolf Crefeld, emeritierter Professor für Sozialpsychologie. Auch wenn es unnötig sei. Um dem entgegenzuwirken, fordern Fachleute deshalb strukturelle Veränderungen in Bayern: neue Verfahrensstandards und flächendeckende, immer verfügbare sozialpsychologische Dienste.

Zuständig wäre das bayerische Sozialministerium, doch das gibt sich sehr bedeckt. Man arbeite derzeit an einer Reform des Maßregelvollzugs, also der Unterbringung kranker Straftäter, sagt ein Sprecher. Im Zuge dessen werde auch das Unterbringungsgesetz geändert. Wie genau, verrät er nicht. Das alles befinde sich noch "in der internen Abstimmung".

Dabei würde eine Reform dieses Gesetzes vor allem den Patienten helfen. Michael Schwarz, Oberarzt am Isar-Amper-Klinikum Haar, berichtet von einer Studie, wonach 28 Prozent der befragten Patienten durch die Zwangseinweisung das Vertrauen zu Ärzten verloren hatten. "So ein Ereignis kann als sozialer Schock wirken - und das Krankheitsbild etwa von depressiven Patienten massiv verschlechtern", berichtet Schwarz.

Quasi in die Klinik verhaftet

Insgesamt werden in der Haarer Klinik jährlich 14.000 Patienten aufgenommen, 2000 davon qua Unterbringungsgesetz. Ein Drittel der Eingewiesenen komme ohne eine psychiatrische Expertise an, sagt Chefärztin Gabriele Schleuning. "Wenn jemand einen Herzinfarkt erleidet, dann kommt auch ein erfahrener Arzt." Schleuning und ihre Kollegen fordern, dass die Polizei enger mit den ambulanten Krisendiensten zusammenarbeitet, doch die winkt ab. Einer Kooperation im akuten Notfall seien enge Grenzen gesetzt, heißt es im Ausschussbericht des Münchner Präsidiums. "Die Personalausstattung der Polizei bedingt eine effiziente Abwicklung der Einsätze, die wenig Spielraum für Kontaktaufnahme zulassen."

So werden psychisch Kranke im Notfall weiterhin quasi in die Klinik verhaftet. Die Notwendigkeit von Zwang streiten selbst Patienten nicht ab. Allerdings ist die Art und Weise entscheidend, wie Wörishofer am Fall von Joseph K. darlegt: Am Morgen nach der Einweisung, als ihn eine Neuroleptika-Tablette in einem Dämmerzustand hält, tritt der Richter an sein Bett, eine Frau ist auch dabei.

Als "nebulöses Figurenspiel" erlebt K. das. Er begreift kaum etwas, doch nach fünf Minuten ist klar: Er wird - freiwillig oder nicht - hierbleiben. Von da an sieht sich K. in einem Räderwerk, auf das er keinen Einfluss hat. "Zum Zwang gehört der Dialog", sagt Wörishofer. "Ebenso wie ein Anästhesist die Narkose genau erklärt."

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