Pasing:"Heimat ist, wo man sich sicher fühlt"

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"Unser Bier ist das beste, unsere Fußballer sind Weltmeister": Min-Tri Nguyen, in Pasing zuhause. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Min-Tri Nguyen flüchtete 1980 aus Saigon, seine Mutter und sein Bruder wurden zuvor von der "Cap Anamur" gerettet. Er lebt seit 31 Jahren in München. Seine Passion: das Verständnis zwischen den Kulturen

Von Sonja Niesmann, Pasing

"Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl." Min-Tri Nguyen kann diesen Satz - es ist der Titel einer Volkshochschulveranstaltung an diesem Samstag, an der er mitwirkt - nur bestätigen: "Heimat ist, wo man sich sicher und geborgen fühlt." Für ihn ist das seit 31 Jahren München. Seine Mutter und sein Bruder waren 1980 aus Saigon geflüchtet, als Boat People. Sie wurden nach drei Tagen aufgefischt von der Cap Anamur, dem Rettungsschiff, das eine private Hilfsorganisation um den Journalisten Rupert Neudeck ins Südchinesische Meer geschickt hatte. Es müssen ähnliche Bilder gewesen sein wie jene, die man heute aus dem Mittelmeer kennt: überfüllte, auf dem Meer treibende Boote, oft leck, ein Spielball der Wellen, erschöpfte, verängstigte Menschen. Anders als heute in Syrien war der Krieg in Vietnam, der drei bis vier Millionen Menschen, drei Viertel davon Zivilisten, das Leben gekostet hatte und der von Napalm-Bomben der US-Armee und dem hochgiftigen Entlaubungsmittel Agent Orange verwüstete Landstriche hinterließ, schon vorbei. Doch in den Jahren nach Kriegsende flüchteten Hunderttausende vor den kommunistischen Siegern aus dem Land hinaus aufs Meer, flüchteten vor Unterdrückung und Verfolgung, vor Willkür und Perspektivlosigkeit. Etwa 35 000 Vietnamesen fanden Zuflucht in Deutschland, die von der Cap Anamur Geretteten erhielten sofort Asyl - ohne Verfahren.

Erst viereinhalb Jahre später konnten Minh-Tri und sein Vater der Mutter und dem Bruder nachfolgen, nachdem der Vater - ein ehemaliger Polizeioffizier in Südvietnam und damit "auf der falschen Seite" - aus dem Umerziehungslager entlassen worden war. Ob er damals das Gefühl hatte, willkommen zu sein in Deutschland, kann Nguyen nicht sagen. Als erste Asiaten in Deutschland seien sie jedenfalls mit Neugier betrachtet worden. Erst Anfang der Neunzigerjahre, als eine Welle von Fremdenhass durchs Land ging, als Rechtsextreme Brandanschläge auf ein von türkischen Familien bewohntes Haus in Solingen und auf ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen verübten, fühlte er Furcht: "Wir haben darauf geachtet, dass die Türen immer gut verriegelt und die Fenster geschlossen waren."

Nach seiner Ankunft in München lernte der damals 17-Jährige in neun Monaten so gut Deutsch, dass er aufs Gymnasium gehen und nach drei Jahren sein Abitur machen konnte. In Vietnam wären seine Chancen, als Sohn eines nicht linientreuen Polizeioffiziers an der Universität zugelassen zu werden, äußerst gering gewesen. Hier in München konnte er studieren, Mathematik. Er arbeitete zunächst als IT-Experte und Risiko-Manager bei einer deutschen Bank, heute ist er als freiberuflicher Berater für IT-Prozesse im Bereich Aktienderivate und Risiko-Management tätig. Allein dafür liebt Nguyen dieses Land: "Dass jeder die gleichen Chancen hat, dass man gefördert wird, sich entwickeln kann."

Weil er es als "verdammtes Glück" empfindet, hier zu leben, liegt es ihm am Herzen, Brücken zu bauen zwischen der einen und der anderen Welt. Zum Beispiel mit dem vietnamesischen Musik- und Theaterverein München, dessen Vorsitzender er ist. Einmal im Jahr gibt es eine große Veranstaltung mit etwa 500 Gästen, bei der Künstler und Nachwuchstalente die vietnamesische Kultur pflegen und auch Deutsche mit ihr bekannt machen wollen. Aber der Verein will umgekehrt auch Vietnamesen an die deutsche Kultur heranführen, er organisiert Fahrten, ins romanische Rothenburg ob der Tauber etwa, oder Stadtführungen durch München. Rund 5000 Vietnamesen leben in München, sie sind Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, sie betreiben Restaurants oder Geschäfte. "Sie arbeiten hart für sich und ihre Kinder", sagt Minh-Tri Nguyen, "aber manche kapseln sich zu sehr ein". Man dürfe, erklärt er mit seiner sanften Stimme, nicht nur nach Wohlstand streben, sondern müsse auch "die Werte, die positiven Dinge" der neuen Heimat aufnehmen. Das ist seine Einstellung - weitere Grundsatzerklärungen, gar Kommentare zu Flüchtlingsbewegungen heute oder zur Asylpolitik umschifft er sorgsam.

Die Lachfältchen um Nguyens Augen vertiefen sich, wenn er erzählt, wie er bei seinen regelmäßigen Besuchen in Vietnam von München, von Deutschland schwärmt: "Unser Bier ist das beste, unsere Fußballer sind Weltmeister." Das Lächeln weicht einem großen Ernst, wenn er einen Satz ausspricht, mit dem sich viele Deutsche seinen Beobachtungen nach schwer tun: "Wir sind stolz auf Deutschland." Stolz darauf, in einem Land zu leben, "das die Menschenwürde respektiert, in dem Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit herrschen". Ein Land zudem, "das die Wiedervereinigung so reibungslos, ohne Blutvergießen geschafft hat".

Wie sieht das Leben der einst aus Süd- und Nordvietnam geflüchteten Menschen hier in Deutschland aus? Gibt es noch - oder wieder - Verbindungen nach Vietnam - vielleicht sogar den Wunsch nach einer Rückkehr? Welche Heimat ist die ihre? Die Balletttänzerin und Kulturmanagerin Ai Van Tran, die Musikerin Jazzy Da Lam und der Mathematiker Minh-Tri Nguyen berichten in der VHS-Veranstaltung "Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl" von ihren Erfahrungen - im Gespräch mit Christiane Wetzels (VHS). Die Veranstaltung mit Musik und Tanz beginnt an diesem Samstag, 14. November, um 18 Uhr in der Bäckerstraße 14. Karten zu sechs Euro gibt es an der Abendkasse. Weitere Kurse über Küche, Sprache und Tänze des südostasiatischen Landes runden den VHS-Länderschwerpunkt Vietnam ab. (www.mvhs.de/west).

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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