Süddeutsche Zeitung

Pasing:Aerosole der Seele

Mit ihren Installationen in der Himmelfahrtskirche setzen Marlies Poss und Blanka Wilchfort Zeichen für religiöse Toleranz

Von Jutta Czeguhn

Unter der Hülle aller Religionen liegt das Göttliche". Friedrich Schillers Zitat scheint über dieser Skulpturen-Gruppe zu schweben. Marlies Poss hat die "Nervature" der Torsi freigelegt, ihre Nerven, ihr Gerippe. Ein Vanitas-Trio, dem das satte, volle Leben schon abhanden gekommen ist. Das Blut pocht nicht mehr, die Seelen haben ihre Körper verlassen und wie Hüllen abgestreift. Zurückgeblieben sind faszinierende Larven, die auch aus nächster Nähe betrachtet rätselhaft wie Mumien bleiben. Gleichzeitig sind sie von einer anrührenden Zerbrechlichkeit. Eine der Figuren ist übersät mit braunen Pocken, die wie ineinander verschmolzene Bernsteinklümpchen aussehen. "Das sind die Hüllen von Zikaden, die hab' ich auf einem Markt in Vietnam gekauft", wird Marlies Poss erklären. Die Künstlerin liebt es, mit Materialien zu experimentieren. Ihr geht es um Verwandlungsprozesse und, sagt sie, "seit ich denken kann, um das Thema Leben und Tod".

Man hat sich mit Marlies Poss vor der Pasinger Himmelfahrtskirche verabredet. Es ist der Morgen nach dem Terror-Anschlag von Wien. Die Mesnerin hat eben aufgeschlossen, nun felgt sie Laub vor der Pforte. Poss hat noch kaum Nachrichten gehört, beim Hineingehen ins Gotteshaus lässt sie sich schildern, was den Abend zuvor in Österreich geschehen ist. Links vor dem Altar, dort wo ihre Skulptur steht, verharrt die Obermenzinger Bildhauerin in einer der Kirchenbänke. Sie ist betroffen und traurig. Mit den Werken, die sie gemeinsam mit ihrer langjährigen Künstlerfreundin Blanka Wilchfort hier in der Kirche zeigt, fordert sie Toleranz ein unter den Religionsgemeinschaften. Ohne die Unterschiede verwaschen zu wollen. Die Hasserektionen, die grausamen islamistisch motivierten Terrormorde der vergangenen Wochen in Frankreich oder nun in Wien - wie anders als mit Verzagtheit kann man auf sie reagieren, mit einem Gefühl der Ohnmacht. Marlies Poss und Blanka Wilchfort, die selbst einer religiösen Minderheit angehören, aber wollen den Glauben an einen Dialog unter Christen, Juden und Muslimen, aber auch Buddhisten nicht verlieren. Ihre Installationen zur Rechten und zur Linken des Altars sind quasi künstlerische Manifestationen des Pasinger Friedenswegs, der heuer nicht in der gewohnten Form als Gemeinschaftserlebnis stattfinden, sondern nur privat gegangen werden konnte.

Entstanden 2016 innerhalb des Flüchtlingshelferkreises des Ökumenischen Netzwerks Pasing, verbindet der Friedensweg alljährlich Gebetsorte im Stadtbezirk. Zum Organisationsteam gehören neben Mitinitiatorin Luitgard Golla-Fackler von der Katholischen Pfarrgemeinde Maria Schutz auch Volkan Türlü, der Beauftragte für interkulturelle und interreligiöse Dialoge in der Pasinger Moschee, die liberale jüdische Gemeinde Beth Shalom sowie Marion Stopic von der Himmelfahrtskirche. 2019 führte der Weg, dem sich stets viele Menschen anschließen, von der Himmelfahrtskirche, wo Sufi-Musik zu hören war, zum Pasinger Rathaus, dort sang Beth-Shalom-Kantor Nikola David, und schließlich zur katholischen St. Hildegard. In diesem Jahr, in dem so vieles pandemiebedingt ausfallen muss, wollte Marlies Poss die Botschaft des Friedenswegs in Kunst übersetzen und ihr so einen Resonanzraum sichern. Nun im Lockdown, ist auch das nicht mehr uneingeschränkt möglich. Immerhin konnte einer von zwei Gesprächsabenden in der Kirche noch stattfinden, und immerhin, die Kunstwerke werden bis 15. November zumindest während der Gottesdienste dort zu sehen sein.

Auch wenn der Austausch über die Kunst also limitiert ist, die beiden Bildhauerinnen hoffen, dass ihre Werke, gerade in diesen Tagen, als Denkanstoß wirken. Denn so haben sie ihre gemeinsame Arbeit in den vergangenen Jahren immer verstanden. Im Stadtbezirk, aber auch im Würmtal, erinnern Poss und Wilchfort mit drei Skulpturen, Titel "Gebeugter leerer Stuhl", an die vertriebene und ermordete jüdische Bevölkerung. In der Himmelfahrtskirche, wo im Januar zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz die Kinderoper "Brundibar" zu hören war, haben sie nun vorübergehend einen Ort für ihre engagierte, jedoch nie plakative Kunst gefunden.

Marlies Poss, die stets an der Grenze zum Gegenständlichen arbeitet, führt in ihrer Installation ein Grundprinzip von Religion ad absurdum: das der Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden, Andersglaubenden. Sie zeigt hinter Plexiglas ihre drei Torsi im Zustand fortschreitender Auflösung. Poss verwendet neben den Zikaden-Hüllen auch Reispapier und kreiert dadurch eine durchscheinende Leiblichkeit. Oder sie moduliert einen Torso aus Blättern, von denen durch die Behandlung mit Lauge nur filigrane Skelette geblieben sind. Wie ein Spinnennetz aus Faszien halten sie nun den Korpus zusammen.

In der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz, sagt Marlies Poss, seien religiöse Differenzen letztlich aufgehoben. Dabei stellt die Künstlerin, die sich als spirituellen Menschen bezeichnen würde, die Bedeutung von Religionen keineswegs in Abrede. Glaube könne Menschen Halt geben in einer unübersichtlichen Welt. Und als normative Kraft seien Religionen wichtig für das ethische Fundament einer Gesellschaft. Blanka Wilchfort nimmt eine deutlich kritischere Haltung ein, angesichts der vielen Konflikte und des Leids, das der vermeintliche Kampf für die Sache Gottes - welchen Gottes auch immer - über die Menschheit gebracht habe. Und doch, auch ihre Skulptur ist ein Bekenntnis zur Spiritualität als verbindendes Element zwischen den Weltreligionen. Sie werden durch vier himmelwärts gestreckte Köpfe symbolisiert, aus deren aufgerissenen Mündern filigrane Drahtgeflechte wie Aerosole der Seele nach oben streben. Darin eingewobene Symbole - Davidstern, Kreuz, Sichel, Dharma-Rad - verlieren ihre Konturen, je intensiver sich alles zu einer unentwirrbaren Wolke vereinigt. Ganz gleich welchem Gott sie anhängen würden, welche Riten sie auch praktizierten, sagt Blanka Wilchfort, "letztendlich ist es die Sehnsucht nach etwas Höherem, das die Menschen untereinander verbindet".

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Quelle:
SZ vom 07.11.2020
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