Süddeutsche Zeitung

Gewalt am Bahnhof:Partymeile S-Bahn

Es wird gepöbelt, geschubst und geprügelt: An Hauptbahnhof, Stachus und Marienplatz mehren sich die Gewaltdelikte, hauptsächlich jugendliche Partygänger haben die Bahnhöfe zum Vorglühen entdeckt. Die Bundespolizei ist alarmiert.

Susi Wimmer

Nein, Alarm schlagen würde Jürgen Vanselow noch nicht. "Aber wir sind an einem Punkt angekommen, wo man sich Gedanken machen sollte", sagt der Chef der Bundespolizeiinspektion München. Denn in den Bahnhöfen Marienplatz, Stachus und Hauptbahnhof mehren sich die Gewaltdelikte. Es wird gepöbelt, geschubst und geprügelt. Hauptsächlich Partygänger haben die Bahnhöfe für sich entdeckt: Dort wird vor dem Discobesuch "vorgeglüht", also kräftig Alkohol getrunken, um sich in Stimmung zu bringen. Auf dem Heimweg wird nachts dort weitergetrunken. Bei mehr als 70 Prozent der Körperverletzungen, die sich in den Bahnhöfen ereignen, sind die Täter betrunken.

Freitagabend, 20 Uhr. Es ist kalt, und am Nordeingang des Hauptbahnhofs zudem recht zugig. Drei blonde Mädchen stehen an den Treppen, quatschen und kichern, links eine Zigarette in der Hand, rechts die Flasche Augustiner. "Wir machen das zum ersten Mal", behaupten sie. Hier, einfach so in der Öffentlichkeit zu stehen, mit der Flasche in der Hand, "das ist ja gesellschaftlich eigentlich nicht angesehen". Aber jetzt tun sie es trotzdem. Weil alle es tun.

Nebendran hockt eine Gruppe aus Murnau, einer von ihnen auf einem Kasten Bier. Vorglühen, dann ab in die Disco, sagt der 16-jährige Georg. Sein Kumpel mit der Bob-Marley-Mütze schaut glasig und lallt. Nein, natürlich hätten sie mit Gewalt nichts am Hut. "Wir sind alle Pazifisten." Warum junge Leute die Bahnhöfe als Trinkstätten für sich entdecken, da kann Bundespolizist Vanselow nur mutmaßen: Weil neue Discos im Bereich Stachus, Marienplatz eröffnet haben, weil es am Hauptbahnhof ein Schnellrestaurant gibt, das rund um die Uhr geöffnet hat und Bier ausschenkt, weil es in den Bahnhöfen nicht so kalt ist wie im Freien.

4,17 Promille Alkohol hatte ein 20-Jähriger im Blut, als ihn die Bahnhofspolizei aufgriff. Der "Rekordhalter" - "er konnte noch gehen und reden", erzählt Jürgen Vanselow. Es ist dieses "traurige Bild" von betrunkenen, jungen Menschen, das ihn umtreibt. "Aber wir als Polizei können nur die Auswüchse bekämpfen. Die Flaschen können wir ihnen nicht wegnehmen."

22.30 Uhr, Marienplatz. Im Zwischengeschoss sieht es nach Party aus. Gut 30 junge Leute sammeln sich am Aufgang Tal, einzelne Grüppchen, in der Hand die Bierflasche. In der S-Bahn zum Stachus hocken zwei junge Mädchen, eine Flasche Rotkäppchen-Sekt geht zwischen ihnen hin und her. Sie sind auf dem Weg zur Discomeile Kultfabrik. Wegen einer Gluten- und Lactose-Allergie könne sie nur Sekt trinken, behauptet die 19-Jährige. Und der sei in der Disco zu teuer. Deshalb müsse sie vorher trinken.

Wolfgang Hauner von der Bundespolizei arbeitet seit fast 20 Jahren am Hauptbahnhof. Er kennt die Bahnhofs-Klientel, die Partygänger, die Obdachlosen, die Kriminellen. Da habe sich nicht viel verändert. "Aber 30-jährige Penner, die gab es früher nicht." Vom Winterfahrplan an soll das Alkoholverbot in S-Bahnen in Kraft treten. Gleichwohl boomt in den Bahnhofsläden das Geschäft mit dem Alkohol. Dort decken sich die Partygänger ein, für eine lange Nacht.

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Quelle:
SZ vom 14.11.2011/afis
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