Süddeutsche Zeitung

Panini-Fieber in München:Zehn Lahms für einen Messi

Eigentlich sind alle Kicker gleich: Ob Cristiano Ronaldo oder Shinji Okazaki, fürs WM-Album braucht man jeden - die Panini-Sucht ist wieder ausgebrochen.

Philipp Crone

Philipp Lahm wird wirklich böse verhauen - und das auch noch von Grundschülern. Jetzt gleich schlägt ihn Mehdi, auf dem Pausenhof. Der spannt seine rechte Hand an, Daumen und Zeigefinger bilden einen Halbkreis, die anderen drei Finger sind angelegt und wölben sich wie eine Kralle über den Spieleinsatz: vier Panini-Bilder, das oberste zeigt das Gesicht von Philipp Lahm, dem Fußballer mit dem Gesicht eines Grundschülers. Zwei Sticker im Stapel gehören Mehdi, neun Jahre, dritte Klasse, schwarze kurze Haare, schmächtig, zwei gehören Frederik, neun Jahre, vierte Klasse, lange blonde Haare, schlaksig. Die Aufkleber mit den gelangweilt glotzenden Kickern liegen übereinander auf einem kleinen Betonmäuerchen, daneben sitzen die beiden Spieler, umringt von zehn Kindern der Grundschule am Pfanzeltplatz in Perlach. Es ist ein lauer Vormittag. Niemand in der Runde um Mehdi und Frederik sagt etwas, und das in der großen Pause. Ein klares Indiz für grassierendes Panini-Fieber.

Die Klebebilder der italienischen Firma Panini sind seit dem 26. April in den Läden und mittlerweile überall. Ob in Schulen, Mensen, Kneipen oder Biergärten, ob die Sammler fünf oder 50 Jahre alt sind, jeder will David Villa haben, den spanischen Stürmer mit der Sammelnummer 579, von 640. So viele Aufkleber (Cannavaro ist oben in Originalgröße abgebildet) müssen in das aktuelle Fußball-WM-Album eingeklebt werden, bis es voll ist. Zu diesem Ziel führen verschiedene Wege, wenig Taschengeld gepaart mit guten Klopftricks zum Beispiel, oder einfach viel Geld - ein Tütchen mit fünf Bildern kostet 60 Cent - und viele Doppelte. Obwohl es wohl wenig sinnfreiere Tätigkeiten gibt, als Fußballerfotos in ein DinA4-Album zu kleben, machen das erstaunlich viele. Bei der WM 2006 verkaufte Panini in Deutschland 800 Millionen Bildchen. Warum eigentlich? Und welche Tricks weiß Mehdi?

Der schmale Junge mit der Brille holt kurz aus, schlägt zu, und seine gewölbte Hand klatscht auf Lahms Gesicht. Der Unterdruck reißt die Bilder ein paar Zentimeter in die Luft, dann fallen sie zurück, die Gesichter immer noch oben. Chance vertan, denn nur wenn sich die Sticker auf ihre Rückseite drehen, darf Mehdi sie behalten. Frederik ist dran. Er hat seine linke Hand zur Faust geballt, damit sie ein wenig feucht wird und die Bilder besser haften. Die Panini-Gesetze sagen: Hand nass machen verboten, anhauchen und Faust ballen erlaubt.

Der Panini-Markt sagt: David Villa ist etwas besonderes, denn er ist ein guter Spieler. Nicht so gut wie Lionel Messi natürlich, der Star aus Argentinien mit der Nummer 122 (im Album). "Ein Messi?", überlegt Frederik, bevor er zu seinem Schlag ansetzt, "also ein Messi ist so viel wert wie drei Villas, oder zehn Lahms". Hinter Philipp Lahm liegen nur noch Arne Friedrich und die Spieler von Japan oder Korea, weil die keiner aussprechen und auseinanderhalten kann.

Frederiks Klopf-Technik ist anders als die von Mehdi. Seine aufgewärmte Hand klatscht ganz flach auf das Bild von Lahm, die Sticker heben ab, drehen sich in der Luft, und landen wieder, Gesichter nach oben, nach einer ganzen Umdrehung. Pech. Ein Raunen erklingt, und jetzt wird angefeuert, das Duell geht schon seit Minuten hin und her. "Mehdi!, Mehdi!" Der nimmt die Karten, knickt sie leicht, so dass sie nur an den Rändern auf dem Beton aufliegen. Ob das erlaubt ist, darüber ist sich das Publikum nicht einig - aber es wird toleriert. Mehdi setzt seine Handkralle behutsam auf die Karten, es klatscht - und von Lahm ist nur noch die Rückseite zu sehen, die vier Bilder gehören jetzt Mehdi, der sie in seinen Stapel sortiert. Die Trophäen werden erst nach der Schule eingeklebt, ganz in Ruhe. Denn der Ärger über ein schnell und schief angebrachtes Bild ist ähnlich groß wie der über fehlende Sticker.

Aber auch die Glücksmomente sind groß, beim Verarbeiten der Beute etwa. Phase eins: das Kaufen. Mittlerweile hat sich jeder Kiosk-Betreiber und Tankwart daran gewöhnt, dass die Sticker-Kunden nicht mehr nur bis zum Tresen reichen, sondern oft den Benz volltanken und noch ein Paar Tütchen dazukaufen. Phase zwei: Das vorsichtige Zerreißen der Papierummantelung; das ist aufregend, weil jeder zum einen schon einmal vor Gier zu schnell gerissen und somit einem Kicker die Frisur ramponiert hat, und weil zum anderen sofort zu sehen ist, ob das erste der fünf Bildchen ein funkelndes Wappen ist. Phase drei: das Durchschauen der Sticker, Phase vier: das zärtliche Biegen der Aufkleberecke, bis die Schutzfolie absteht, der ganz eigene Geruch des Klebstoffs, das perfekte Einpassen des Bildes gefolgt von liebevollem Glattstreichens und einem kurzen Blick des Glücks auf die Doppelseite - wieder einer mehr.

Ein Rap-artiger Sound ertönt auf dem Schulhof. Ein Mitschüler schaut den Doppelten-Stapel von Mehdi durch: "Habichhabichhabichhabich." So klingt die inoffizielle Panini-Hymne in Deutschland seit 1974, als die ersten Sticker hierzulande verkauft wurden. Statt zu klopfen wurden damals die Sticker noch im Duell geworfen. Wessen Bild am weitesten flog, der durfte alle geworfenen behalten. Statt mit feuchten Händen wurde mit gezinkten, also mehrfach übereinander geklebten Stickern, geschummelt. Die fliegen weiter. Und ein Maradona war damals zehn Bertholds wert.

Frisuren und Namen ändern sich mit der Zeit. Was Wappen hieß, nennt sich jetzt "Glitzer". Und es gibt mittlerweile mehr Bildchen pro Album, denn wo früher die unbekannten Teams mit einer Seite Vorlieb nehmen mussten und zwei Spieler auf einem Sticker abgedruckt waren, bekommen jetzt selbst Exoten wie Honduras eine eigene Doppelseite.

Aber nach wie vor wirkt beim Sammeln der gleiche Effekt wie beim Puzzlen: Spaß macht nur der Weg zum Ziel. Wer das Album voll hat, verliert die Lust. Er kann dann ein paar Mal die von den aufgeklebten Bildern herrlich schwer gewordenen Albumseiten durchblättern, aber das war's. Kein tauschen, handeln, tricksen mehr. Keine Kommunikation mehr mit Gleichgesinnten. "Hier sammeln jetzt Kinder zusammen, die sonst nichts miteinander zu tun haben", sagt Grundschulrektorin Veronika Schäffer.

75 Millionen Tüten sind bisher von Panini für Deutschland gedruckt worden, mancher Kiosk muss nach vier Wochen nachbestellen, die erste Schule in München hat das Sammeln schon verboten. Am Pfanzeltplatz ist es noch erlaubt, erst wenn auch im Unterricht getauscht wird, gibt es Sanktionen. Und aufhören wird das Klopfen wohl erst nach dem WM-Finale, oder? "In den letzten Jahren war das schlagartig aus, wenn die Deutschen rausgeflogen sind", sagt Schäffer. Vielleicht ist das ja am 3. Juli der Fall, da könnte Deutschland im Viertelfinale gegen Argentinien spielen und Messi die deutschen Kicker aus dem Turnier schießen. Wäre kein Wunder, denn den können ja nur zehn Lahms aufhalten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.949386
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.05.2010/wib
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.