Palliativstation in München:Abschied mit Würde

"Wir sind höchstens der Vorgarten zum Paradies": Vor 20 Jahren entstand im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder die erste Palliativstation Bayerns.

Monika Maier-Albang

Sie haben sie in die Kapelle gefahren, denn der Abschiedsraum ist schon besetzt mit dem zweiten Toten dieser Nacht. Ihr Körper ist vom Krebs so ausgezehrt, dass das Laken sich kaum wölbt, die Wangen sind eingefallen. Man wird nicht schöner im Tod, selbst wenn die Schwestern hier sich darum bemühen.

Palliativstation in München: Die Palliativstation unterscheidet sich vom normalen Klinikalltag.

Die Palliativstation unterscheidet sich vom normalen Klinikalltag.

Dem Mann, der nebenan aufgebahrt ist, haben sie ein weißes Baumwollsäckchen unters Kinn gelegt, damit der Mund geschlossen bleibt. Die Angehörigen haben Tulpen in seine Hände gelegt und ihm ein Plüschtier beigesellt. Und wenn sie dem Rat von Thomas Binsack folgen, werden sie noch einmal kommen. Weil man beim zweiten Abschied mehr Ruhe habe, sagt Binsack, gefasster sei.

Erst nach 24 Stunden wird ein Bestatter kommen und die Toten dieser Nacht abholen. Das tun sie hier, auf der Palliativstation vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, für die Angehörigen. Und sie warten 24 Stunden, bevor sie das Bett wieder belegen, in dem jemand gestorben ist. Das tun die Mitarbeiter für sich.

An seinem früheren Arbeitsplatz, einem Universitätsklinikum, ist es Binsack passiert, dass er nach einem Patienten sehen wollte, den er wochenlang behandelt hatte. Doch aus dem Bett blickte ihn ein fremdes Gesicht an. Das kann man mal verkraften. Doch wenn man, wie Binsack und sein Team, 500 Menschen pro Jahr bis zum Tod begleitet, muss man sorgsam umgehen mit der eigene Seele.

Es sind Achtsamkeiten wie diese, große und kleinere, die eine Palliativstation unterscheiden vom normalen Klinikalltag. Wie der Kuchen, von dem Franz-Josef Schmid auf Zimmer 36 zu erzählen weiß. Er könne ihn ordern, wann immer er Lust darauf habe, sagt Schmid. "Wie im Hotel." Ein Stück, oder auch zwei. Und keiner sagt: Der Kuchen tut Ihnen nicht gut. Und die Pfleger machen sich schon mal auf den Weg vom Nymphenburger Schlossrondell, wo der Eingang zur Palliativstation liegt, zum Tengelmann am Romanplatz, weil ein Patient sich nichts sehnlicher wünscht als Weißwürste hier und jetzt.

So angenehm wie möglich wollen sie den Patienten den letzten Lebensabschnitt machen. Ohne Schmerzen, mit leckerem Kuchen, in hellen Zimmern und mit einer fest für einen Patienten und seine Angehörigen zuständigen Pflegerin, die weiß, dass er seinen Kaffee mit Zucker mag und dass er lieber auf der linken Seite als auf der rechten liegt. Und wenn sie die Menschen im Sommer unter die Bäume auf die Terrasse fahren, die an fast jedes Zimmer angebaut ist, hat Binsack schon erlebt, dass ein Patient seinen Arm ergreift und sagt: "Wissen Sie, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich auf meiner eigenen Terrasse liege." Manchmal nennen die Patienten die Station "das Paradies", aber dann winkt Oberärztin Susanne Roller ab: "Wir sind höchstens der Vorgarten zum Paradies."

Seit 1991 gibt es die Palliativstation nun, die die erste in Bayern war. Heute ist sie mit 32 Betten die größte bundesweit. Die Menschen, die hierher kommen, sind im letzten Stadium einer unheilbaren Krankheit - bösartige Tumorerkrankungen, schwere Leber- oder Lungenleiden. Aids-Patienten hatten sie in den neunziger Jahren, heute kaum noch.

Betreut werden die Kranken von einem Team aus Ärzten, Schwestern, Pflegern, Sozialarbeitern und Physiotherapeuten. Dazu kommen Seelsorger, Atem- und Musiktherapeuten sowie ein Kreis ehrenamtlicher Hospizhelfer. Oft rufen Angehörige an, die einen Kranken hier unterbringen wollen. Doch der Weg ist ein anderer, die Empfehlung muss vom behandelnden Arzt kommen oder von den Krankenhäusern, mit denen die Palliativstation kooperiert - Dachau, Bogenhausen, Dritter Orden.

Eine Kerze für die Verstorbenen

Im Schnitt sind die Patienten zwei Wochen auf der Station, so lange, wie "es medizinisch erforderlich ist", sagt Binsack. Geht es dem Kranken besser, kann er zu Hause oder im Pflegeheim weiter behandelt werden. Kündigt der Tod sich an oder gibt es keinen anderen Ort, wo der Kranke betreut werden kann, verlegen sie ihn ins Hospiz. Mehr als die Hälfte der Patienten stirbt allerdings bereits auf der Palliativstation.

Palliativstation in München: Wenn jemand Angst hat zu ersticken, wandert die Hand der Atempädagogin auf den Rücken oder zum Becken.

Wenn jemand Angst hat zu ersticken, wandert die Hand der Atempädagogin auf den Rücken oder zum Becken.

Viel hinzugelernt hätten sie in den zwei Jahrzehnten, sagt Binsack, der die Station mitaufgebaut hat. Sie haben Menschen behandelt, denen der Tumor Auge und Nase weggefressen hatte. So leicht schreckt sie nun nichts mehr. Anfangs hatten sie sich Vorwürfe gemacht, wenn just zum Todeszeitpunkt niemand an der Seite des Sterbenden saß, obwohl die Schwestern Nächte hindurch Wache halten. Heute glauben sie zu wissen, dass der Kranke Einfluss nehmen kann auf den Todeszeitpunkt. So oft schon haben sie beobachtet, dass ein Kranker sich gerade dann aus dem Leben verabschiedet, wenn der Angehörige, der stundenlang an seinem Bett ausharrte, kurz eine Zeitung kaufen geht.

Und manchmal, sagt Binsack, könne der Tod tatsächlich "ein großer Erlöser sein". Für den Kranken, aber auch für Angehörige, die nach langer Pflegezeit zermürbt sind. Dann reden sie mit ihnen, versuchen, der Ehefrau zu erklären, dass sie es nicht auf sich beziehen muss, wenn ihr Mann plötzlich sein Lieblingsessen verschmäht. Weil der Zeitpunkt gekommen ist, wo der Körper nichts mehr aufnehmen und der Kranke sich von der Welt trennen mag.

Mit sehr unterschiedlichen Erwartungen kämen die Kranken ins Haus, sagt Roller. Manche hoffen "heil zu werden", andere hoffen, möglichst schnell zu sterben. Manche bitten die Ärzte um Hilfe dabei - was sie nicht tun dürfen und nicht tun würden. Aber sie haben Möglichkeiten, nicht nur die Schmerzen zu lindern. Wenn jemand Angst hat zu ersticken, rufen sie Maria Hinneberg, die Atempädagogin. Sie spricht mit dem Patienten, öffnet das Fenster. Ihre Hand wandert auf den Rücken oder zum Becken - so führt sie die Atmung gleichsam weg von dort, wo die Blockade sitzt und hin zu einem "heilen Ort". Und Hinneberg berührt, denn Berührungen, sagt sie, sind eine Wohltat für einen Kranken, gerade wenn er offene Wunden hat oder Gerüche absondert und sich dafür schämt.

"Wie geht Sterben?" Das wollen immer wieder Patienten von Thomas Binsack wissen. Die Antwort falle ihm bis heute schwer, sagt der Arzt. Aber er versucht zu erklären, was er beobachtet hat in den vergangenen 20 Jahren: Wie Menschen mit einem Hirntumor "hinüberschlafen". Dass es einen "Todeskampf" auf einer Palliativstation nicht gibt, weil sie Schmerzmittel verabreichen. Und wenn diese selbst in hohen Dosen nicht ausreichen, können die Ärzte dem Sterbenden eine "palliative Sedierung" anbieten, eine Art Narkose, bei der starke Beruhigungsmittel den Patienten zeitweise in einen Dämmerzustand versetzen.

Wer hier stirbt, für den entzünden sie eine Kerze vor dem Zimmer. Sie wollen offen umgehen mit dem Sterben. Und ehrlich sein zu den Sterbenden. Drumrumgerede und "Das-wird-schon-wieder"-Beschwichtigungen haben die Patienten oft mehr als genug gehört, von Angehörigen wie auch von Ärzten. Oder es geht ihnen wie Franz-Josef Schmid. Sein Arzt hatte ihn gefragt, ob er erst die gute oder erst die schlechte Nachricht hören wolle. Die gute war: "Sie leben noch." Die schlechte: Aber nur noch ein halbes Jahr. "Das", sagt Schmid, "war scho a bisserl hart."

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