Süddeutsche Zeitung

Ostbahnhof:Ein rostiger Zaun mit historischer Bedeutung

  • Gegenüber der Orleansstraße 63 entstanden am 23. Juli 1942 berühmte Fotos der Widerstandsgruppe Weiße Rose.
  • Den Zaun, der auf ihnen zu sehen ist, gibt es noch. Doch ob er stehen bleiben wird, ist ungewiss.

Von Andreas Schubert

Seit Jahrzehnten rostet er weitgehend unbeachtet vor sich hin. Doch ein alter Eisenzaun an der Orleanstraße, zwischen der Elsässer- und der Kirchenstraße, ist für die Weiße-Rose-Stiftung und für Mitglieder des Bezirksausschusses (BA) Au-Haidhausen ein Gedenkort, den sie zumindest in Teilen erhalten wollen. Hier, gegenüber der Hausnummer 63, entstanden am 23. Juli 1942 berühmte Fotos der Widerstandsgruppe Weiße Rose. Doch ob der Zaun stehen bleiben wird, ist ungewiss. Im BA fürchtet man, dass er wegen des Baus der zweiten S-Bahn-Stammstrecke abgerissen wird.

Eines der Bilder, das wohl bekannteste, zeigt Sophie Scholl zusammen mit ihrem Bruder Hans Scholl und Christoph Probst mit sehr nachdenklicher Miene. Auf zwei anderen Bildern sind Sophie und Hans Scholl, Hubert Furtwängler, Willi Graf und Alexander Schmorell zu sehen. Sophie Scholl hält eine weiße Rose in der Hand, die Stimmung wirkt auf diesen Bildern heiter, dabei sind die jungen Männer kurz vor dem Aufbruch zum Einsatz an der Ostfront, Sophie Scholl ist hier, sie zu verabschieden.

Der Medizinstudent Jürgen Wittenstein machte diese Aufnahmen, die bis zum Sommer dieses Jahres auch auf einer Gedenktafel an Ort und Stelle zu sehen waren. Allerdings nur vier Jahre lang. Die Tafel, die auf Privatgrund stand, war von der Witterung aber so stark beschädigt, dass sie abgebaut werden musste. Für den Bezirksausschuss Au-Haidhausen aber steht fest, dass hier künftig ein neuer Gedenkort geschaffen werden soll - wann, das ist offen.

Offen ist dabei auch, ob der Zaun, der bis heute im Original erhalten ist, überhaupt stehen bleiben kann. Nach einem Bericht des Bayerischen Rundfunks, wonach bereits festzustehen scheint, dass der Zaun weichen muss, sind jene sehr verunsichert, die das Gedenken an die Weiße Rose erhalten wollen. Von der Bahn ist zu hören, dass an dieser Stelle keine oberirdischen Bauarbeiten für die Stammstrecke geplant sind.

Hier soll in den kommenden Jahren, voraussichtlich von Mitte 2020 an, in etwa 40 Metern Tiefe der Tunnel in bergmännischer Bauweise gegraben werden. Am Orleansplatz entsteht gleichzeitig der neue Tiefbahnhof. Und die Baustellen-Einrichtungsflächen, die oberirdisch für den Streckenbau benötigt werden, sind eigentlich weit genug weg, um den Zaun zu verschonen. An der Bahn läge es nach eigenen Angaben also nicht, wenn der Zaun fällt. Und die GVG Grundstücksverwaltungs- und verwertungsgesellschaft, der besagtes Areal nordöstlich des Ostbahnhofs gehört, also auch der Zaun, äußert sich derzeit noch nicht über künftige Pläne.

Gedenkstätte erst nach Abschluss der Arbeiten?

Im BA vermutet man, dass auf dem Grundstück Wohnungen entstehen sollen - eigentlich eine Bebauung, bei der ein möglicher Gedenkort mehr Aufmerksamkeit als heute erfahren könnte. Und laut einer Sprecherin schließt die GVG auch nicht aus, an Ort und Stelle zumindest ein Stück Zaun zu erhalten und eine Gedenkstätte zu schaffen. An der inzwischen wieder verschwundenen Gedenktafel hatte sich die GVG damals auch finanziell beteiligt.

Aber so schnell dürfte das nicht gehen. Hermann Wilhelm, Mitglied des Bezirksausschusses und Leiter des Haidhausen-Museums, ist einer derjenigen, die sich damals im BA für die Gedenktafel eingesetzt hatten, basierend auf einer Idee des Politikwissenschaftlers und Autors Werner Thiel, der den Ort 2003 als Schauplatz der Bilder identifiziert hatte. Der BA habe erst in diesem Jahr beschlossen, dass ein neues Denkmal aufgestellt werde, sagt Wilhelm. Doch wegen der anstehenden Baumaßnahmen dürften bis dahin noch einige Jahre vergehen, schätzt er.

Der Autor, Künstler und Kurator, der erst vor wenigen Tagen eine Ausstellung über Haidhausen im Gasteig eröffnet hat, sieht vor Abschluss der Bauarbeiten wenig Sinn, eine neue Gedenkstätte zu schaffen. Gleichwohl hofft auch er, dass der Zaun nicht irgendwann komplett verschwindet. Hildegard Kronawitter, die Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, hält den Zaun an sich schon für denkmalwürdig. Auch wenn bereits an mehreren Orten der Stadt an die Weiße Rose erinnert wird - allen voran in der Denk-Stätte in der Ludwig-Maximilians-Universität -, so ist dieser unscheinbare, jahrzehntelang vergessene Ort am Ostbahnhof wegen der vor 75 Jahren entstandenen Bilder für Kronawitter ein Originalschauplatz von historischer Bedeutung.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2017/vewo
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