Ost-West-Friedenskirche:Der Mann, der im Traum erschien

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Egal ob Heiliger oder Scharlatan: Die Ost-West-Friedenskirche im Olympiapark bleibt auch fünf Jahre nach dem Tod von Väterchen Timofei ein magischer Ort.

Lisa Sonnabend

Dieser Ort ist alles andere als gewöhnlich - das merkt der Besucher sofort. Hinter dem Eingang zur Ost-West-Friedenskirche im Münchner Olympiapark blüht ein Flieder. An den Ästen baumeln ein Stoffbär, ein Schnuller und bunte Christbaumkugeln. Vor fünf Jahren starb Münchens bekanntester Eremit, Väterchen Timofei. Die Wohnhäuser und Kirchen, die Timofei in den fünfziger Jahren errichtete, stehen noch immer. Und auch die Legende lebt weiter.

"Timofei war für mich ein Hellseher": Sergey Kokasin kümmert sich um die Ost-West-Friedenskirche. (Foto: Foto: sonn)

Im Garten stehen Obstbäume, Blumen blühen. Ein Hase hoppelt vorbei. Bienen schwirren um den Stock, einige Meter davor ist ein bunt bemaltes Schild aufgehängt: "Stop! Vorsicht Bienen!" Es ist eine ruhige, friedliche Oase, am Rande des großen Kiesplatzes, auf dem im Juni das Tollwood-Festival stattfindet. Ein ganz ungewöhnlicher Ort für München.

Sergey Kokasin versperrt den Weg, weil er mit einer großen Gartenschere den Flieder stutzt. Der 50-Jährige kommt jeden Tag auf das Grundstück. Mit neun anderen Münchnern hat er nach Timofeis Tod eine Stiftung gegründet. Sie wollen, dass die unglaubliche Geschichte Timofeis nicht vergessen wird und geben sie an die Besucher weiter.

Timofei Wassiljewitsch Prochorow wurde wohl 1894 in Russland geboren. Die deutsche Wehrmacht zwang ihn, so berichete Timofei, mit einer Kutsche deutschen Soldaten bei der Flucht vor der Roten Armee zu helfen. In einer Feuersäule sei ihm zu dieser Zeit die Gottesmutter erschienen und habe ihm befohlen, eine Kirche für den Frieden in West und Ost zu errichten, so erzählte Timofei stets. Erst versuchte er es in Wien, scheiterte aber an der Bürokratie. Da erschien ihm die Gottesmutter erneut: "Geh nach München!"

1952 kam er mit seiner Lebensgefährtin Natascha in München an. Auf dem Oberwiesenfeld errichtete Timofei aus Kriegsschutt eine Kapelle, ein Wohnhaus und schließlich die Friedenskirche. Gemeinsam mit Natascha legte er einen Garten an und verkaufte Äpfel und Honig.

1968 wurde bekannt, dass die Sportstätten für die Olympischen Spiele auf dem Oberwiesenfeld errichtet werden sollten. Das Grundstück von Timofei war in Gefahr. Die Münchner protestierten und hatten Erfolg: Das Olympiagelände wurde weiter nördlich errichtet.

Christian Ude bezeichnete das Gelände fortan als "den charmantesten Schwarzbau Münchens". Der Oberbürgermeister schaute hin- und wieder bei dem Mann mit den weißen Haaren und Rauschebart vorbei, wenn er einen Spaziergang machte. Ein altes schwarz-weiß Foto im Wohnhaus zeigt Tomofei im Gespräch mit dem Künstler Friedensreich Hundertwasser. Und auch eine junge Frau namens Silvia war oft zu Besuch. Timofei fand, sie stelle für ihr Alter ungewöhnlich interessante Fragen. Nach den Olympischen Spielen war sie jedoch plötzlich verschwunden. Erst Jahre später stand sie wieder vor der Tür und sagte zu Timofei: "Ich bin jetzt Königin von Schweden."

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Timofei im Altersheim und Krankenhaus, am 24. Juli 2004 starb er. Laut seiner vergilbten Geburtsurkunde, von der niemand weiß, ob sie echt ist oder nicht, wurde er 110 Jahre alt. Timofei liegt auf dem Westfriedhof begraben.

Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: Warum Timofei für Sergey Kokasin ein Hellseher ist.

Ost-West-Friedenskirche
:Im Reich von Väterchen Timofei

Ost-West-Friedenskirche

Besucher kommen auch heute noch zu Ost-West-Kirche, vor allem Schulklassen und alte Bekannte von Timofei. Sie gehen am symbolischen Grab vorbei, das Timofei für seine verstorbene Frau Natascha anlegte. Sie besichtigen die Kapelle, deren Kuppel mit Stanniolpapier ausgekleidet ist, das wie Silber glänzt, und in der zahlreiche Ikonenfiguren stehen. Und sie machen einen Rundgang durch das zu einem Museum umgebaute Wohnhaus von Timofei. Die Fotografin Camilla Kraus hat sorgsam alte Zeitungsausschnitte, Fotos und Gemälde von Timofei zusammengetragen. Ein Besucher hat ins Gästebuch geschrieben: "Hier ist ein Ort der Ruhe. Wunderschön!" Für Kokasin ist die Ost-West-Friedenskirche allerdings mehr als ein Ruhepol, für ihn ist sie ein Ort voller Magie und Wunder.

Eines Nachts Anfang der Neunziger, Kokasin lebte damals in Wien, erschien ihm im Traum ein Mönch mit schwarzem Gewand, weißem Haar und langem Bart. Zwei Jahre später landete der Handelsvertreter in München. Sein Geschäftsführer erzählte ihm von dem russischen Eremiten im Olympiapark. Als Kokasin Timofei aufsuchte und ihn auf der Bank im Garten sitzen sah, durchfuhr es ihn: Es war der Mann aus dem Traum. So erzählt Kokasin von seiner ersten Begegnung mit Timofei im Jahr 1994.

An diesem verregneten Vormittag sitzt Kokasin rauchend in einem der Wohnhäuser Timofeis. Im Kamin brennt Feuer, auf einer Kommode liegt ein plastisches Kunstwerk, an dem Kokasin gerade arbeitet. Er ist ein großer Mann, aber seine Stimme ist weich.

Und dann beginnt Kokasin wieder vom Timofei zu erzählen, mit dem ihm, wie er sagt, von Anfang an eine Seelenverwandschaft verband: Einmal sei eine Frau in den Garten gekommen. Timofei rief ihr zu: "Respektiere deinen Vater!" Die Frau hätte sich umgedreht und sei weinend zusammengebrochen. Ihr Vater war vor einigen Tagen gestorben, seitdem erschien er ihr jede Nacht im Traum und warf ihr vor: "Warum respektierst du mich nicht?" Kokasin sagt: "Das war das erste Zeichen für mich, dass Timofei ein Hellseher ist."

Die Ost-West-Friedenskirche ist ein Ort, an dem Wunsch, Zauber und Wahrheit nicht klar voneinander zu trennen sind. Ob Timofei nun ein Hellseher war oder nicht, ist vielleicht auch gar nicht so wichtig. Ein ganz besonderer Ort in München ist die Ost-West-Friedenskirche allemal.

Ost-West-Friedenskirche, Spiridon-Louis-Ring 100, Oberwiesenfeld. Geöffnet täglich von 10 bis 16 Uhr.

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