Ortsmitten:Aldi vor Schönheit

Ob Karlsfeld, Garching oder Buchenau: Viele Gemeinden in der Region, die schnell gewachsen sind, setzen im Ringen um ihre Identität auf neue Zentren. Deren Gelingen hängt von der Nutzung ab

Von Katharina Blum

Wollte man über Nacht eine Geisel verstecken, wäre das hier wohl ein guter Ort. Sobald die Arbeiter abends diese riesige Baustelle verlassen haben, könnte man wohl gar nicht so laut um Hilfe rufen, als dass einen jemand hört. "Das ist schon alles wahnsinnig groß geworden", sagt Hiltraud Schmidt-Kroll beim Blick auf die klotzigen Betonmauern. "Aber wir müssen akzeptieren, dass Karlsfeld kein Straßendorf mehr ist."

Ein Straßendorf war Karlsfeld vor dem Zweiten Weltkrieg, damals lebten weniger als tausend Menschen hier. Heute sind es mehr als 20 000 Einwohner - und für diese entsteht gerade eine neue Ortsmitte mit mehr als 200 Eigentumswohnungen, einem Aldi, einem Edeka und einer Drogeriefiliale. Geplant sind zudem kleinere Einzelhandelsflächen und Gastronomie. Im Mai feierten sie Richtfest. Und Hiltraud Schmidt-Kroll, die länger als 60 Jahre in Karlsfeld lebt, war froh, dass an einigen Gebäuden wenigstens schon etwas Farbe war. "Davor war es noch hässlicher." Die Kritiker sprechen deshalb gern von "Klein-Manhattan" oder "Wohngebiet mit Aldi".

Früher war das mal ganz simpel. Da war die Ortsmitte der schönste Platz im Dorf. Aber damals hieß der Bundeswettbewerb ja auch noch "Unser Dorf soll schöner werden" und nicht wie heute "Unser Dorf hat Zukunft". Schönheit ist nicht mehr das vordringliche Problem vieler vom Siedlungsdruck geplagter Kommunen um München - und so verhält es sich auch mit den neuen Mitten, die hier in den vergangenen Jahren entstanden sind. Meist auf dem Reißbrett geplant und nicht historisch gewachsen. "Am Ende geht es immer um Benutzungsintensität, das heißt die richtige Mischung von Funktionen und Nutzergruppen am richtigen Ort", erklärt Professor Mark Michaeli vom Lehrstuhl für Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land an der Technischen Universität München. "Eine ansprechende Gestaltung ist notwendige Bedingung, nicht aber ausreichend."

Anders ausgedrückt: Die neuen Ortsmitten werden nicht in Schönheit sterben, auch Ödnis aus Stahl und Beton lässt sich Leben einhauchen. Was aber auch funktionieren kann: etwas völlig Neues ausprobieren, Spektakel bieten. Michaeli nennt Rotterdam als Beispiel. Dort weihte Königin Máxima im Herbst 2014 die neue Markthalle ein, die laut Zeit aussieht "wie eine gigantische Biskuitrolle, die zu lange im Ofen war und schwarz geworden ist". Dieses irrwitzige Konglomerat aus Wohnungen, Geschäften sowie jeder Menge Verkaufsstände und Imbissbuden ist ein Lebensraum, ein Anziehungspunkt geworden.

Zurück in den Münchner Westen. Karlsfeld war noch nie ein Dorf wie aus einem Heimatfilm gepurzelt, sondern eine Gemeinde, wie es sie im Umland viele gibt. Nicht besonders schön, nicht besonders hässlich. Die neue Ortsmitte wird eher nicht zur ästhetischen Aufwertung beitragen, dennoch ist Hiltraud Schmidt-Kroll froh, dass endlich "das Loch weg ist". Das Loch, für das man sich geschämt hat. Denn fast ein halbes Jahrhundert mussten die Karlsfelder auf ihre neue Mitte warten, mal hatten sich Eigentümer geweigert, den Baugrund zu verkaufen, mal waren Investoren abgesprungen. "Zwischendurch stand sogar mal ein Sonnenschirm mit Liege da", erzählt die 65-Jährige, während sie in einer Broschüre von 1998 blättert. Realisiert wurden die Entwürfe daraus nie. Schmidt-Kroll hat einige davon gesehen, seit mehr als 30 Jahren sitzt sie für die SPD im Gemeinderat. "Wir hoffen, dass uns das neue Zentrum jetzt endlich Identität geben kann, dass die Leute hier flanieren und beieinander sitzen können."

Die Ortsmitte als Identifikationsort - darauf hofft man nicht nur in Karlsfeld. Gerade in den durch Pendlerstrukturen geprägten Gemeinden um München seien sie ein Mittel geworden, diese nicht zu Schlafstädten verkommen zu lassen, sagt Professor Michaeli. "In Zeiten, in denen sich das Einkaufsverhalten massiv gewandelt hat und fast jeder nur noch mit Smartphone durch die Gegend läuft, müssen wir Wege finden, wie Themen und Ideen wieder in den Ort kommen, dort diskutiert werden."

Auch in Garching ringt man schon länger um die Identität. Vor fünf Jahren erst hatte die Stadt ein neues Logo bekommen - ohne den Zusatz "bei München". Hoffnung setzt man jetzt auf die "Neue Mitte", um nicht mehr länger von den Studenten als Garchosibirsk verspottet zu werden. Der TU-Campus liegt bisher ziemlich isoliert in der Landschaft und bietet wenig Abwechslung. Im vergangenen Jahr haben die Bauarbeiten für das 160 Millionen Euro teure Zentrum Galileo begonnen. Ende 2017 soll das Gebäude für die etwa 25 000 Menschen, die dort studieren und arbeiten, bezugsfertig sein. Fest steht, dass ein Hotel mit 253 Zimmern einziehen wird. Außerdem wird es 170 Apartments geben und ein Kongresszentrum. Auch im benachbarten Oberschleißheim soll alles schöner werden, wenn die neue Ortsmitte kommt. Bei deren Gestaltung hat man sich vom Schleißheimer Schlosspark inspirieren lassen. Viele Bänke, ein kleiner Kanal und Wasserspiele sollen zum Schauen und Rasten einladen. Zwei neue Geschäftsblöcke sollen das bestehende Ladenzentrum und die Gaststätte ersetzen. Investitionsvolumen: rund fünf Millionen Euro.

Der Fürstenfeldbrucker Stadtteil Buchenau ist nicht ganz so idyllisch, wie der Name vermuten lässt, sondern fast schon ein urbanes Zentrum. Doch wenn man Experten fragt, wo das Konzept einer Ortsmitte funktioniert, dann nennen viele Buchenau. Der Geschwister-Scholl-Platz beim Einkaufszentrum hat schon viel Kritik einstecken müssen ob seiner Gestaltung. Doch er ist nicht nur für viele Einwohner zu Fuß gut zu erreichen, sondern liegt auch noch an einer S-Bahn-Station - und weit genug entfernt vom Fürstenfeldbrucker Ortskern. Damit unterscheidet sich dieses Einkaufszentrum von vielen anderen, wo am Ortsrand große Gewerbegebiete geschaffen wurden, mit der Folge, dass im Ortskern die Geschäfte dichtmachen.

Karlsfeld hatte mit dem Marktplatz an der Rathausstraße, nur zwei Straßen ums Eck von der neuen Mitte, eigentlich auch schon einen Ort, an dem das Gemeindeleben pulsieren könnte. Ein paar Bänke gibt es hier, drumherum Einzelhändler, eine Bäckerei, eine Pizzeria mit Sitzplätzen im Freien. Freitags findet auf dem Platz der Wochenmarkt statt. "Doch wenn dann mal etwas los ist, beschweren sich die Nachbarn", erzählt eine Ladenbesitzerin. Da würde dann auch mal Spülwasser vom Balkon gekippt. Hiltraud Schmidt-Kroll ist das sichtlich unangenehm: "Wir leben halt doch nicht in einer Stadt." Und auch Michaeli kennt dieses Phänomen: "Was viele oft überrascht: Sie wollen rausziehen aufs Land, doch dort sieht es aufgrund des Siedlungsdrucks zunehmend städtischer aus."

Poing ist so ein Ort, wo viele junge Familien ihr Eigenheimglück suchen, weil sie es in der Großstadt nicht bezahlen können. Die Ortsmitte soll dort den alten Ortskern mit den Neubaugebieten verbinden. Wer sich den großen Platz hinter dem S-Bahnhof, wo im November 2000 das City-Center eröffnet wurde, anschaut, der sieht vor allem: viele leere Kiesflächen. "Zu nackt", "zu trist" und "wenig heimelig" - so hatten die Poinger 2013 in einer Umfrage ihre Ortsmitte beschrieben. Weil sich seitdem offenbar nicht genug verändert hat, sitzen sie an diesem Montagabend im Bürgerhaus zusammen und kleben bunte Zettel an die Flipcharts, die Marketingfachmann Thomas Schächtl mitgebracht hat. Ganz oben auf der Wunschliste: eine Eislaufbahn. Öffentliche Toiletten, schönere Spielplätze, ein Brunnen, Trimm-Dich-Geräte und seniorengerechte Sitzgelegenheiten, kleine Bars und Cafés werden ebenfalls vorgeschlagen. Eine lange Liste, die Verwaltung will sie auswerten und dem Gemeinderat vorstellen. Was umgesetzt wird, entscheidet auch das Budget. Die Bürger seien oft sehr kleinteilig in ihren konkreten Wünschen, sagt Michaeli. "Wir brauchen hochqualitative Räume, damit die Menschen bereit sind, ihre Wohnung zu verlassen und nicht nur in ihrer Blase leben." Gewünscht wurde in Poing auch ein Defibrillator - auch eine Idee, die Ortsmitte zu beleben.

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