Sicher ist Bachs Weihnachtsoratorium ein schönes Stück. Das "Jauchzet, frohlocket" gehört zum Sound des Festes. Doch die Musikgeschichte der Weihnachtszeit birgt außer den Bach-Kantaten noch andere Schätze. Ein wichtiges, wenn auch selten gespieltes Werk stammt von einem veritablen Münchner Haus- und Hofkomponisten, dessen Kompositionen nun vollständig und nach modernen Standards ediert sind.
Orlando di Lasso kommt aus (dem heute belgischen) Mons und wird als Kind dreimal aus der Schule entführt, weil er, der Chorknabe, eine so schöne Stimme hat. In Italien bleibt er eine Weile, reist durch Europa und gelangt 1556 als Tenorist an den Münchner Hof Herzog Albrechts V. von Bayern. Fünf Jahre später leitet er dessen Hofkapelle, ein Amt, das er erst mit seinem Tod 1594 aufgibt.
Zu seinen merkwürdigsten und schönsten Werken gehören die "Prophetiae Sibyllarum", die Sibyllen-Weissagungen, vierstimmige Gesänge, die in dunklen Worten und Klängen von einer Jungfrauen-Geburt und dem Anbruch eines neuen Zeitalters künden. Wie aber kommt Lasso dazu, die obskuren, schwer verständlichen Texte in exquisite Vokalmusik zu verwandeln?
Die Sibyllen sind mythische Seherinnen, im Fresko der Sixtinischen Kapelle hat Michelangelo sie den biblischen Propheten gegenübergestellt. Berühmt geworden ist vor allem die zentrale, die Sibylle von Cumae. Sie hat schon in Vergils viertem Hirtengedicht das Kommen des Menschensohnes vorausgesehen. Bei Michelangelo hat sie die körperliche Präsenz einer Kugelstoßerin - von der Zukunft zu sprechen ist ein hartes Business. Womöglich kannte der weitgereiste Lasso diese Darstellung. Ganz sicher kannte er aber die Volksbücher, die aus den Weissagungen hergestellt wurden.
Vielleicht hat den genialen Textausdeuter Lasso gerade die Dunkelheit der sibyllinischen Worte fasziniert. Er kleidete den lateinischen Text in vielfarbige, weit voneinander entfernte Akkorde. Dieser bewusste Einsatz "chromatischen" Komponierens entspricht dem Wundervollen, das gesagt wird und gilt auch als eine stilistische Vorliebe des kunstsinnigen Herzogs. Er schätzt die "beseelte Verrücktheit" Lassos, wie der Musikwissenschaftler Horst Leuchtmann es nannte. Doch entstanden ist daraus nicht nur ein musikalischer Höhepunkt der Renaissance, sondern auch eine Prachthandschrift für den Arbeitgeber: vier in roten Samt gebundene Stimmbücher, abgeschlossen mit einem Porträt des Komponisten, das seinen selbstbewussten Blick einfängt.
Über die Sibyllen wacht der Herzog als sogenannte "musica reservata"; sie gehören ihm, werden nur am Hof aufgeführt und erst nach Lassos Tod gedruckt. Dass heute trotzdem verlässliche Lasso-Partituren existieren, ist vor allem den Forschern zu verdanken, die passenderweise an Lassos Wirkungsstätte die Quellen ausgewertet haben. Die Lasso-Gesamtausgabe - ein Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften - hat seinen Ort in der Münchner Residenz. Oder hatte, denn der letzte Band ist abgeschlossen. Mit diesem Jahr läuft deshalb ein echtes Großprojekt aus, dessen Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert reichen.
Für den Leiter des Projektausschusses, den Würzburger Musikwissenschaftler Ulrich Konrad, ist damit ein Stück musikalischer Denkmalpflege geschafft. "Bei uns regieren die Fakten", sagt er. Denn jede Partitur ist das Ergebnis akribischer, sorgfältig dokumentierter Arbeit mit den Quellen und steht nun denen zur Verfügung, die sich der Musik wissenschaftlich oder praktisch nähern möchten.
Das sollte man unbedingt tun, findet auch sein Kollege Bernhold Schmid, der sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter dem Werk Lassos verschrieben hat. Er hat auch nach Jahrzehnten die Faszination nicht verloren. Ihn begeistert Lassos "Sprunghaftigkeit", wenn sie vom Text gefordert wird. "Um Stimmungen einzufangen, verlässt Lasso dann die normalen Kadenzformeln. Und um Gattungsgrenzen kümmert er sich wenig."
Das lässt sich nun, da der siebenundvierzigste Band der Ausgabe zum Druck bereit ist, in der ganzen Fülle des Werks bestaunen. Sei es in den Motetten, Madrigalen, Liedern, oder den Gesängen der Sibyllen - nicht nur zur Weihnachtszeit.