Was wäre gewesen, wenn die drei Journalisten, die am Donnerstagabend im vollbesetzten Saal des Literaturhauses diskutieren, all die Briefe, Tagebücher und andere private Aufzeichnungen unbeachtet gelassen hätten, die in Schubladen oder auf dem Dachboden lagerten? Nun, dann wären mindestens drei Geschichten nicht erzählt worden, deren Relevanz weit über das Familiäre hinausgeht, Geschichten mithin, die Einblicke in das Leben von Tätern und Opfern während der Nazi-Zeit bieten. Wie gut also, dass die drei einen anderen Weg gewählt haben. Sie haben jeweils ein Buch geschrieben. Die Fernsehjournalistin und Stern-Reporterin Wibke Bruhns hat sich auf die Spuren ihres Vaters Hans Georg Klamroth begeben, den die Nazis nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet haben. Die Publizistin Alexandra Senfft berichtet in ihrem Buch "Schweigen tut weh" von ihrer Mutter, über deren unglücklichem Leben der dunkle und verderbliche Schatten des Vaters lag, des SA-Führers Hanns Ludin - er war als Gesandter Hitlers in der Slowakei für den Tod von mehr als 60 000 Juden verantwortlich und wurde 1947 als verurteilter Kriegsverbrecher gehenkt. Und der ehemalige stellvertretende Spiegel-Chefredakteur Martin Doerry widmet sich in seinem Buch "Mein verwundetes Herz" dem Schicksal seiner jüdischen Großmutter Lilli Jahn, die in Auschwitz ermordet wurde.
Warum aber haben sich die drei Autoren an die Arbeit gemacht, die, das war zu ahnen, ja sehr viel Unangenehmes zu Tage fördern würde? "Ich wollte meinem Vater ein Monument hinstellen", sagt Bruhns. Aber bald merkte sie, dass auf dem Bild des Vaters etliche dunkle Flecken liegen, dass die großbürgerliche Familie schon früh dem Nationalsozialismus anhing. Zudem wurde ihr klar, dass die Biografie ihres Vaters allein nicht ausreichen würde, das zu sagen, was ihr vorschwebte. "Mir kam es darauf an, die Zeit zu beschreiben", und dabei habe der Vater quasi als "Vehikel" gedient. An Quellenmaterial fehlte es Wibke Bruns nicht, in ihrer Familie sei alles aufgeschrieben worden, sogar, wo man die Osternester versteckt hatte. Bei dieser Überfülle an Informationen konnte sie sich sparen, die Familienmitglieder zu befragen, was ihr ohnehin ein Graus gewesen wäre: "Jeder wüsste es besser."
In Alexandra Senffts Familie kursierten "viele Mythen", in denen ihr Großvater, der Kriegsverbrecher, "immer als guter unschuldiger Nazi" vorkam. Dass Hanns Ludin in hohem Maße Schuld auf sich geladen hatte, wurde verdrängt. Senfft stellte sich die Frage: "Was passiert in der nächsten Generation, wenn man die Geschichte verdrängt?" Ludins Tochter, die 14 Jahre alt war, als ihr Vater hingerichtet wurde, ist an diesem Schweigekartell zerbrochen. Senfft sagt: "Mein Großvater ist am Galgen gestorben, meine Mutter an Depressionen." Auch sie selbst sei in das "Schweigen hineingeboren worden". Aber da gab es ja noch kistenweise Fotos und Briefe, welche die Mutter hinterlassen hatte, und die waren für die Journalistin das Material, um sich Klarheit zu verschaffen und die richtigen Fragen zu stellen. Etwa die Frage, wie normale, gebildete Menschen zu Mördern werden. Die Wahrheit müsse ans Licht, damit die verderbliche Macht des Tabus gebrochen werde. Senfft hat es in Kauf genommen, als Nestbeschmutzerin beschimpft zu werden. Ihre Antwort lautet: "In Wahrheit ist es eine Nestreinigung."
Auch in Martin Doerrys Familie gab es so ein Tabu. Zum familiären Schweigekartell gehörte nicht zuletzt sein Onkel, Lilli Jahns Sohn Gerhard, der von 1969 bis 1974 Bundesjustizminister im Kabinett von Willy Brandt war. Das Tabu, erzählt Doerry, brach auf, als die Nachkommen die Briefe Lilli Jahns - es waren rund 250 - fanden. Das besonders Bestürzende war, dass es im Grunde ihr Ehemann war, der sie, die jüdische Ärztin, der Verfolgung durch die Nazis preisgab. Ernst Jahn hatte sich von seiner Frau scheiden lassen, damit er seine Geliebte heiraten konnte. Damit hatten die Nazis freie Hand, die nunmehr alleinstehende Lilli Jahn zu drangsalieren und sie schließlich ins Konzentrationslager Auschwitz zu deportieren.
Ob man diese vordergründig privaten Familiengeschichten öffentlich machen darf, fragt Doerry später in die Runde. Ja, antwortet Senfft. "Wenn man es nicht tut, arbeitet dieses Schuld- und Schamgefühl in uns weiter."