Operation an der Blase:„Es ist eine Herausforderung, die sich definitiv lohnt“

Lesezeit: 3 Min.

Weltweit nur eine Handvoll Zentren, die diese aufwendige Blasen-OP beherrschen. (Foto: Jose Luis Carrascosa/imago images/Westend61)

Wenn die Blase nicht mehr funktioniert, kann ein operativer Eingriff helfen. Im Klinikum Bogenhausen führt ein Team um Niclas Broer die seltene OP durch – der Chefarzt erklärt, wie das gemacht wird und welche Chancen und Risiken es dabei gibt.

Interview von Ekaterina Kel

Mithilfe eines Rückenmuskels und der Bauchmuskulatur die Blase kontrollieren? Klingt abenteuerlich. Ein Team um Niclas Broer, Chefarzt der Klinik für Plastische Chirurgie an der München Klinik Bogenhausen, hat die nötige Expertise, um diese aufwendige Rekonstruktions-Operation durchzuführen. Sie verspricht Patientinnen und Patienten mehr Selbständigkeit und Lebensqualität.

SZ: Herr Broer, die meisten von uns gehen ganz selbstverständlich auf die Toilette, ohne darüber nachzudenken, dass zum Urinieren ein ziemlich großer Muskel nötig ist. Wie funktioniert das eigentlich?

Niclas Broer: Sie müssen sich vorstellen, dass unsere Blase ein Organ ist, das innen drin hohl ist und sich allmählich mit Urin füllt – wie ein Reservoir. Die Blase ist von einem Muskel ummantelt, der dafür sorgt, dass sie sich entleeren kann. Dies ist ein willentlicher Vorgang, man verspürt den Drang, auf die Toilette zu müssen, und wenn man dann geht, spannt sich der Muskel an. Es ist eine bewusste Tätigkeit. In manchen Fällen aber hat der Muskel die Fähigkeit verloren, sich anzuspannen.

Wann funktioniert es nicht?

Etwa nach einem Unfall, wenn die Nerven, die den Muskel aktivieren, beschädigt oder durchtrennt wurden. Schussverletzungen bei Soldaten beschädigen manchmal diese Region. Auch ein verschleppter Bandscheibenvorfall kann dazu führen. Oder eine angeborene Erkrankung ist der Grund, etwa bei Spina bifida, einer Fehlbildung der Wirbelsäule. In bis zu 20 Prozent der Fälle weiß man die genaue Ursache gar nicht, der Muskel wird dann einfach zu schwach.

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Sie rekonstruieren für diese Menschen in einer Operation einen neuen Blasenmuskel. Wieso genügt es nicht, einen Katheter zu legen?

Grundsätzlich gilt natürlich: Die Blase muss auf jeden Fall regelmäßig entleert werden. Denn wenn sich Urin zurückstaut, kann er ernsthaft die Nieren schädigen. Das heißt, diese Patienten haben teilweise eine lange Leidensgeschichte hinter sich, müssen sich alle paar Stunden selbst katheterisieren. Es gibt dafür spezielle sterile Einmal-Sets, die man immer mit sich führen muss. Das ist jedes Mal eine Herausforderung und führt auch häufig zu wiederkehrenden Infektionen des Urintrakts, die wiederum Schmerzen und Antibiotika-Behandlungen nach sich ziehen. Diese Art der Lösung wird auf Dauer sehr kostspielig für die Krankenkassen.

Aber so eine Operation zieht auch einige Risiken und Kosten nach sich. Und der Erfolg ist nicht garantiert.

Das stimmt. Bei etwa 15 Prozent der Patienten stellt sich nach der OP leider nicht der gewünschte Effekt ein, nämlich, dass sie wieder selbständig auf die Toilette gehen können.

Chefarzt Niclas Broer an der Klinik Bogenhausen. (Foto: Florian Peljak)

Und trotzdem lohnt sich der Eingriff?

Der Leidensdruck der Patienten ist meist so groß, dass sie jede Möglichkeit nutzen wollen. Wenn es nicht klappt, verschlechtert sich der Ist-Zustand zumindest nicht. Und wenn es klappt, immerhin in mehr als 80 Prozent der Fälle, dann haben sie eine wirklich erhebliche Verbesserung ihrer Lebensqualität erreicht. Das ist so viel wert, diese Selbstverständlichkeit des Körpers wiederzuerlangen!

Sie entnehmen einen großen Muskel aus dem Rücken und wickeln diesen um die Blase. Wie kam die Idee dazu auf?

Sie stammt von meinem Vorgänger Milomir Ninkovic, der damals noch in Innsbruck Oberarzt war, und seinem Tübinger Kollegen Arnulf Stenzl. Die beiden haben den Eingriff vor mehr als 20 Jahren an Hunden ausprobiert und das erste Mal 1996 an einem Menschen. Der Latissimus dorsi ist ein großer, flacher und starker Rückenmuskel, etwas größer als ein DIN-A4-Blatt. Er eignet sich sehr gut für diese Rekonstruktion, weil man ihn gut um die Blase wickeln kann.

Ein Rückenmuskel im Becken. Das müssen Sie genauer erklären.

Damit er wieder funktioniert, muss er an die Blutversorgung angeschlossen werden, das heißt, wir nähen die Arterie und die Vene wieder dran. Und danach muss die Nervenversorgung wiederhergestellt werden. Die ist ganz entscheidend, damit der Patient willentlich den Muskel zusammenziehen kann. Dafür nimmt man ein Ende vom Nerv des Rückenmuskels und ein anderes Ende vom Nerv des vorderen Bauchmuskels, und vernäht sie unter dem Mikroskop. Die haben etwa zwei Millimeter Durchmesser. Faden und Nadel sind dabei dünner als ein menschliches Haar.

Und was muss man dann anspannen, um auf die Toilette zu gehen?

Wenn alles geklappt hat, kann der Patient durch Anspannen des Bauchs selbständig urinieren. Aber das dauert.

Warum?

Ganz einfach, weil der Nerv erst wieder neu nachwachsen muss. Die Schläuche wurden zwar verbunden, aber die Nervenfasern, die das elektrische Signal weiter in den Rückenmuskel transportieren, brauchen lange, bis sie so weit gewachsen sind. Etwa 0,5 bis ein Millimeter am Tag wächst so ein Nerv. Bis zur Blase hat er 15 Zentimeter oder mehr zu bewältigen.

Und wie kommen die Patienten ohne so einen großen Rückenmuskel klar?

Erstaunlich gut. Der fehlende Muskel wird vom Rest der Rückenmuskulatur sehr gut kompensiert. Die Patienten können auch die meisten Sportarten ganz normal ausüben.

Es gibt weltweit nur eine Handvoll Zentren, die diese OP-Methode ausführen, sie wurde bisher nur einige hundertmal gemacht, in Bogenhausen waren es bisher rund 30 Eingriffe. Warum so selten?

Man braucht ein gutes Team, in das ein Urologe und ein plastischer Chirurg viel Expertise einbringen müssen. Es gibt auch für erfahrene Kollegen viel zu lernen. Aber es ist eine Herausforderung, die sich definitiv lohnt.

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