Musiktheater:Im Überfluss der Emotionen

Werther Theater Regensburg Opern in Bayern

In Regensburg stirbt Amar Muchhala als todverliebter Rocker in der Titelrolle von Jules Massenets "Werther" in den Armen von Charlotte (Vera Semieniuk).

(Foto: Juliane Zitzlsperger)

In Bayern erwachen die Opernhäuser und begeistern mit Premiere von München bis Nürnberg. Zeit für musikalische Ausflüge

Von Klaus Kalchschmid, Andreas Pernpeintner, Michael Stallknecht und Egbert Tholl

Während des zweiten Lockdowns waren die Theater und die Opernhäuser zwar geschlossen, weitergearbeitet wurde dort aber dennoch. Nun, in diesem theaterverrückten Herbst, stellt sich das ein, was man damals prognostizieren konnte: Es wird eine Zeit des Überflusses. Eine Zeit, in der man in ein, zwei Stunden in andere Städte reist, auch wegen der Theater dort. Aber es ist auch eine sehr seltsame Zeit: Auf der einen Seite kriegen die Häuser ihre Vorstellungen längst noch nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie vor Corona voll, weil die Menschen noch zögern, Angst haben, auf der anderen Seite hauen die Theater Produktionen raus als gäbe es kein Morgen. Was auch immer man aus Corona und den Folgen hätte lernen können, es fand kaum statt, und der Betrieb macht weiter wie zuvor, nur mehr. Aber wer soll das bewältigen?

Natürlich, für die Kulturbegeisterten in den jeweiligen Städten ist es großartig, frische Ware vorgesetzt zu bekommen. Am vergangenen Wochenende gab es allein an den Opernhäusern Bayerns vier Premieren. Am Samstag drei, Vivaldis "Bajazet" am Staatstheater Nürnberg, "Mozarts "La clemenza di Tito" am Staatstheater Augsburg, Massenets "Werther" in Regensburg. Am Sonntag folgte dann noch die umjubelte Neuproduktion von Schostakowitschs "Die Nase" an der Bayerischen Staatsoper unter dem Dirigat des neuen Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski und in einer äußerst gelungenen Inszenierung von Kirill Serebrennikov. Wem aus dem Münchner Raum diese brillant-kritische Auseinandersetzung mit dem Russland der Gegenwart zu aufwühlend ist, dem bleiben folgende Empfehlungen.

Nürnberg: Bajazet (Il Tamerlano)

Staatstheater Nürnberg Bajazet

Florian Götz, ein Bariton im Rollstuhl, in Vivaldis "Bajazet" in Nürnberg.

(Foto: Bettina Stöß)

"Bajazet (Il Tamerlano)" ist am Staatstheater Nürnberg ein "Baroque at its best". Denn für das Pasticcio (italienisch für Pastete), uraufgeführt im Karneval 1735 in Verona, recycelt Antonio Vivaldi nicht nur eigene Kompositionen aus verschiedenen Opern, sondern wählt zur Hälfte geschickt Arien anderer Komponisten. Neben Johann Adolph Hasse sind dies Nicola Porpora, Riccardo Broschi und Geminiano Giacomelli. Sie waren damals nicht zuletzt durch den berühmten Kastraten Farinelli in Mode, während der späte Vivaldi schon als etwas veraltet galt.

So gibt der Italiener seine Musik hauptsächlich den positiven Figuren wie Bajazet (ein grimmiger Bariton im Rollstuhl: Florian Götz) und seiner Tochter Asteria. Das war ein kleiner Seitenhieb gegen die Kollegen, deren Musik er verwendet. Beide werden von Tamerlan gefangen gehalten, und die "fremde" Musik für diesen Tartaren-Herrscher in teuren, extravaganten Anzügen (Kostüme: Annemarie Bulla) von heute singt der koreanische Countertenor David DQ Lee brillant, ebenso Julia Grüter ihre virtuosen Arien als Irene, die Bajazet versprochen war, aber nun abserviert ist. Die 3. Preisträgerin beim diesjährigen ARD-Musikwettbewerb verkörpert famos eine richtige Bitch, die mit allen Mitteln wieder zur Favoritin des Tyrannen wird. Dafür gibt's zu Recht den meisten Applaus.

Auch Asteria (Almerija Delic), die Tochter Bajazets, ist in der spannenden Inszenierung von Nina Russi ein moderner Charakter von heute in Boxerstiefeln und einer Faust auf dem T-Shirt. Selbst im Glitzerkleid macht sie auf dem Sofa noch die Beine breit, als wäre sie lieber ein Mann. Nian Wang in der Hosenrolle des wankelmütigen Andronico, einst Scherge Tamerlans, aber jetzt verliebt in Asteria, schlägt mit warmem, sanftem Mezzo nicht minder überzeugend ganz andere, verhaltene Töne an. Unter Barockspezialist Wolfgang Katschner singen nicht nur die Protagonisten enorm stil- und koloraturensicher, historisch informiert klingt es auch aus dem Orchester. Gäste spielen je zwei Theorben, Cembali und Naturhörner, die Streicher des Hauses benutzen Barockbögen und musizieren nicht minder aufregend. Und zusammen mit der modernen szenischen Fassung von Nina Russi im wunderbar variablen Bühnenbild von Mathis Neidhardt ist das Ganze echtes Musik-Theater (nächste Vorstellungen: 30.10., 1.11., 7.11.)!

Augsburg: La clemenza di Tito

Tito Staatstheater Augsburg

In Augsburg gibt Mirko Roschkowski den Kaiser Titu in Mozarts Oper "La clemenza di Tito".

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

In der Tat, auf gewisse Weise ist die Milde des Kaisers Titus, um die es - neben der Liebesentsagung - in Mozarts Oper "La clemenza di Tito" geht, fast unwirklich und schwer erträglich. Titus verzeiht seiner Braut Vitellia (Sally du Randt), die ihn ans Messer liefern wollte. Er verzeiht seinem Freund Sesto, der sich, liebestrunken, von Vitellia zum (letztlich unausgeführten) Attentat auf ihn hat überreden lassen. Titus verzichtet sogar auf seine zunächst auserkorene Braut Servilia (Jihyun Cecilia Lee), weil die Annio liebt. Ein solcher Gutmensch auf dem Kaiserthron, einer, der ob der Bürde seiner Verantwortung zaudert? (Titus-Sänger Mirko Roschkowski hält hierzu nach der Pause einen eindrucksvoll gesprochenen Monolog.) Und am Schluss siegt das zufriedene Lächeln ob der eigenen Güte? Nichts da, denkt sich Annio ganz am Ende dieser gelungenen Premiere des Staatstheaters Augsburg und schießt das Brautpaar über den Haufen. Aus.

Man konnte ahnen, dass etwas faul ist in diesem milden Augsburger Titus-Rom, in dem das Volk (der hervorragend disponierte Opernchor) mit aufgesetzter Einheitsmimik rote Fähnchen schwenkt und Blumen regnen lässt, in dem die Geheimpolizei hopsnimmt, wer aus der Reihe tanzt, in dem Titus-Lakai Publio eigentümlichen, triebgesteuerten Fantasien nachgehen kann (Schuhfetisch). Publio-Sänger Torben Jürgens spielt das hinreißend, und auch gesanglich ist er, der einzige Akteur mit tiefer Stimme in einer mit vielen Hosenrollen besetzten Oper, bemerkenswert präsent. Dazu interpretieren die Augsburger Philharmoniker unter der Leitung von Domonkos Héja die klar konturierte Partitur sehr präzise und haben neben einem beeindruckenden Cembalisten eine vorzügliche erste Klarinettistin in ihren Reihen.

Solche Leistungen sind erforderlich, um in der Industriehalle im Martini-Park, die während der Sanierung des Stammhauses Spielstätte des Staatstheaters ist und Regisseur Wojtek Klemm mangels Bühnentechnik nur eine sparsame (aber geschickt um Video-Projektionen ergänzte) Szenerie gestattet, Opernatmosphäre zu erzeugen. Sängerisch gelingt das vor allem auch Ekaterina Aleksandrova als Annio - und in allen Belangen Natalya Boeva als Sesto, dessen Hadern mit der Schuld des Verrats der gefühlsintensive Höhepunkt ist (nächste Vorstellungen: 6.11., 13.11, 19.11., 3.12.).

Regensburg: Werther

Corona machte vieles unmöglich - und manches vorher Undenkbare möglich: Über ein Onlinevorsingen bewarb sich Amar Muchhala für die Titelrolle in Jules Massenets "Werther". Nun steht der in Indien geborene, in London lebende Tenor auf der Bühne des Theaters Regensburg und bringt alles mit, was es für die umfangreiche, technisch heikle Partie braucht: die lyrische Grundierung mit reicher dynamischer Abstufung, aber auch die Kraft zur dramatischen Entäußerung. Mit bedingungsloser Leidenschaft wirft sich Muchhala in die Rolle des todverliebten Rockers mit Wallehaar und Lederkluft, den die Inszenierung vorsieht. Dass er ganz nebenbei auch optisch den Reiz des Exotischen in die weiße Mehrheitsgesellschaft auf der Bühne bringt, macht umso nachvollziehbarer, dass Charlotte trotz ihrer soliden Ehe mit Albert nicht von ihm loskommt. Zumal Nurkan Erpulat diese Geschichte plausibel erzählt. Bekannt für seine Schauspielinszenierungen vor allem am Berliner Maxim-Gorki-Theater, legt er in Regensburg seine erste Opernregie vor. Viel braucht er dafür nicht: einen Flügel, einen Sessel - und die komplette Technik des Hauses. Im leeren Bühnenhaus lässt Ausstatterin Katrin Nottrodt die Drehbühne kreisen, Podeste steigen und die Obermaschinerie herunterfahren. Darüber entstehen pure, aber kraftvoll stilisierte Bilder, in denen Erpulat geschickt mit den Konstellationen und Abständen zwischen den Figuren spielt.

Die gelegentlich eingesetzte Tanztruppe bleibt da eigentlich ebenso überflüssig wie die - da merkt man den Schauspielregisseur - Striche innerhalb des Stücks, die vor allem die Figur des Albert treffen. Zumal Frederic Mörth in der besuchten zweiten Vorstellung (die Besetzungen wechseln) Albert mit voller, runder Stimmstatur als sympathischen bürgerlichen Widerpart Werthers zeichnet. Nohad Becker verkörpert die zwischen beiden zerrissene Charlotte mit kraftvollem, sämigen (etwas künstlich eingedunkeltem) Mezzosopran, Anna Pisareva ihre Schwester Sophie mit leichtem, in der Höhe silbrigem Sopran. Im Graben bringt der Dirigent Tom Woods nach und nach die Leidenschaft zum Überkochen, indem er das bei Massenet nicht leichte Spiel zwischen Drängen und Nachgeben beherrscht. So entsteht mit letztlich einfachen Mitteln ein packender Theaterabend, für dessen weltentrückten Schluss die Regie einen spektakulären Bühneneffekt bereithält. Verraten sei er hier nicht, weil man die Produktion unbedingt selbst gesehen haben sollte (Nächste Vorstellungen: 29.10., 7.11., 18.11., 21.11., 28.11., 8.12.).

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