Wochenende der offenen Ateliers:Hipster in der Schuhzentrale

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Marco Eisenack (links) und Markus Rottmaier haben aus der Zentrale des Schuhändlers Tretter ein Kreativquartier auf Zeit gemacht. Noch ist das "Kickoff" aber nicht gerettet. (Foto: Michael Zirnstein)

Bei "Open Westend" laden die Kreativen in ihr rest-proletarisches Viertel. Mit dem "Kickoff" präsentiert sie auch ein neues Kreativ-Quartier.

Von Michael Zirnstein

Fazinierend, was Künstliche Intelligenz schon kann. Beziehungsweise, was Moritz Pongratz ihr beigebracht hat. Der Kommunikations-Tausendsassa hat eine App entwickelt und so trainiert, dass sie jeden denkbaren Gegenstand nach Art des Gestalter-Gurus Dieter Rams kreiert. In seinem Büro im neuen Westend-Kreativquartier "Kickoff" tippt er etwa "Pistole" in sein Tablett, und Sekunden später erscheint auf einem großen Display eine "Gun not by Rams", klar, technisch und silbern wie Rams' legendäre Super-8-Kamera Braun Nizo.

Auf einem Bildschirm rollen weitere retro-futuristische Beispiele herunter: eine Keksmaschine, ein knuffiger Space-Trabi, auffällig viele Sexspielzeuge. Da gerät man als Besucher in Versuchung, sich selbst ein Alltagsding designen zu lassen: Yogamatte, Zeitschrift, Blumentopf ... geht ganz fix und verblüfft. Jeder kann's ausprobieren, denn Pongratz öffnet seinen Design-Automaten für alle Besucher des "Opening Events" im Kickoff, das ins große Viertel-Schaulaufen "Open Westend" eingebunden ist.

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Sollte jemand sich eine "Videokamera für seine Träume" ausdenken lassen wollen - das hat Pongratz schon erledigt. Würde das medizinisch anmutende Gerät funktionieren, es würde bei vielen hier im Haus die selben Gedankenbilder zeigen: Nämlich das Kickoff selbst, die ehemalige Firmenzentrale des Schuhhändlers Tretter an der Ridlerstraße 13 bis 15. "Es ist ein Traum für uns - wo findet man sowas denn sonst in München?", sagt stellvertretend für die derzeit etwa 30 Nutzer Manuel Lorenz. Der junge Künstler und Grafikdesigner hat einen Platz im ersten Stock ergattert.

Hier ist auf 1100 Quadratmetern das "Gabriele" untergekommen. Das soziale Projekt des International Munich Art Lab (IMAL) ebnet Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Weg in den Künstlerberuf durch kostenlose Atelierplätze und Ausstellungsflächen. "Hier können wir uns weiterentwickeln", sagt Lorenz vor seinen mit Typografie spielenden Siebdrucken. Drei davon wird sie in einer Gemeinschaftausstellung mit anderen IMAL-Künstlern beim Wochenende der Offenen Türen im Kickoff ausstellen.

Manuel Lorenz stellt seine Siebdrucke in der Ausstellung in der "Gabriele" vor. (Foto: Michael Zirnstein)

Die Gäste können über drei Ebenen auf insgesamt 6000 Quadratmetern an alten Tretter-Fundstücken sowie neuen Start-up-Insignien wie Skateboards und Tischtennisplatten vorbei die Lager, Werkstätten, Büros, Ateliers, den Yoga-Raum im ehemaligen Chef-Loft und die sonnige Dachterasse erkunden - und die Kreativen kennen lernen: die Handwerker-Gemeinschaft Cowerken im Erdgeschoss zeigt zu Wohnkunst veredelte Sperrmüllmöbel; die Veganerin Claude Jones erzählt, was hinter ihren Tier-Mensch-Keramiken und Porzellan-Pistolen steckt; die Werbeagentur Stories to be told zeigt eine "Retter"-Installation und Filme; und die Redaktion des Stadtmagazins Mucbook lädt zu Drinks und Musik.

In diesem lichten Raum residierte einst der Tretter-Chef, jetzt wird hier unter anderem Yoga gemacht. (Foto: Michael Zirnstein)
Die Neuseeländerin Claude Jones beschäftigt sich in solchen Skulpturen mit dem Verhältnis von Mensch und Tier. (Foto: Michael Zirnstein)

Mucbook-Gründer Marco Eisenack hatte die Idee für die "Mucbook Clubhäuser" wie das "Kickoff". In derzeit sieben Zwischennutzungen in München bieten er und sein Team Kreativen Coworking-Räume für etwa 2,50 bis 13 Euro pro Quadratmeter an. Das Tretter-Haus sei sein "Paradebeispiel" für solche "Creative Hubs", in denen die "Members" jeder für sich, und doch eng vernetzt in Wohlfühlatmosphäre arbeiten. Zwei besonders helle Räume hat er reserviert für "die Apples und Googles" der Stadt, also finanzstarke "Global-Player", die von der Startup-Kreativenergie profitieren könnten - und mit einem Sponsoring das Projekt langfristig sichern sollen. Damit sich auch Künstler wie Anja Stemmer hier weiter in ihren sonnengefluteten Ateliers verwirklichen dürfen: Die Polymer-Physikerin stellt spezielle Lacke für ihre Farbenrausch-Bilder her, von denen einige per App mit dem Handy zum Leben erweckt werden - "phygitale Kunst" nennt sie das, und sie ist schon "ganz gespannt auf die Reaktionen der Besucher - das ist schließlich die Idee von Open Westend".

Die Künstler des Viertels hinter der Theresienwiese präsentieren sich bei "Open Westend 2023". (Foto: Ricky Young)

Ein Wochenende lang präsentiert sich nicht nur das Kickoff, sondern das ganze Viertel hinter der Theresienwiese in seiner ganzen rest-proletarischen Pracht und künstlerischen Geschäftigkeit. Der Plan weist insgesamt 51 Stationen aus und wirkt wie eine dichtgepackte Karte der Hinterhof-Flohmärkte ( www.openwestend.de). Das Gefühl ist ähnlich: Die Besucher blicken hinter die Fassaden und schauen, wer hier alles so lebt und wirkt: Man staunt über den Raum mit den großen Webstühlen, auf denen Sylvia Wiechmann Schals, Paramente und textile Bilder aus Jaquard- und Damaststoffen fertigt (Gollierstraße 70).

An großen Webstühlen fertigt Sylvia Wiechmann (links) Schals, Paramente und textile Bilder aus Jaquard- und Damaststoffen. (Foto: Rolf Wiechmann)

Ingrid Hottner und Nina Danelon zeigen in ihrem Laden-Atelier "unique Items", etwa handgefertige Objekte als Kopfschmuck (Ligsalzstraße 3). Es gibt viel künstlerischen Schmuck, etwa von Brigitte Kühl (Trappentreustr. 5), Gabi Green (Gollierstraße 17) oder Iris Schabert, die auch Porzellanobjekte erschafft (Bergmannstraße 1). Zum Teil international renommierte bildende Künstler laden in ihre mal laborhaften, mal rumpeligen Atleliers, wie der Maler Ken Brown (Westendstr. 129a), die Bildhauerin und Installationkünstlerin Heike Schäfer (Gollierstr. 70) oder Dietmar Janz, bekannt für seine Kunst-Buch-Unikate (Gollierstr. 50). Manfred Sieber lässt sich beim Malen eines Landschaftsaquarells über die Schulter schauen (Astallerstr. 25).

Im Westend haben viele Goldschmiedinnen ihre Werkstätten und Läden, wie auch Birgit Kuehl. (Foto: Birgit Kuehl)

Die Kirchen und ihre Pfarrsäle werden zu Kunst-Kammern: Der ehemalige Streetartist Renato Rill verwandelt St. Rupert mit einer Installation aus Wasserwagen, Brigitte C. Reichl ("von der Socke zur Seife ... vom Sex bis zum Bankencrash") installiert Objekte in St. Benedikt, und die Licht-Künstlerin Angelika-Hofmann erleuchtet die Auferstehungskirche, wo auch Karl Imhoff sein Sprachcollagen-Kunst-Theater aufführt und wo Talinovo ihr Tanztheaterstück "Gift" zeigen. Burchard Dabinnus' gibt seine Hörspielperformance "Geisterbahn" zum rätselhaften Tod einer BR-Journalistin (Gollierplatz 14). Und Andreas Groß und Daniel Eichinger bitten in ihrem Atelier zwischen vom Tango inspirierten Zeichnungen bei einer Milonga zum Tanz (Bergmannstr. 26) - die Künste beflügeln sich gegenseitig.

Open Westend, 24.-26. März, Fr. 18-21 Uhr, Sa. 12-20 Uhr, So. 12-19 Uhr, www.openwestend.de

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