Open-Air-Ausstellung "Faces of Europe":Der Menschensammler

Lesezeit: 3 Min.

Fotograf Carsten Sander hat für seine Porträt-Serien ganz Deutschland und Europa bereist, hat Tausende Gesichter. Jetzt sind einige dieser beeindruckenden Arbeiten am Schwabinger Tor zu sehen

Von Nicole Graner, Schwabing

Das "Du" kommt Carsten Sander schnell über die Lippen. Nicht weil er damit kokettieren möchte, sondern weil es für ihn ein Teil des Lebens geworden ist. Das Gegenüber genau zu betrachten, zu studieren, - jedes Fältchen, jede Veränderung der Physiognomie - zu erkennen, was den Menschen bewegt im Moment der Begegnung, ist Sanders Weg zu einem perfekten Bild, zu einem, man könnte sagen "wahrhaftigen" Porträt. Ohne Stellage, ohne aufgesetztes Lächeln. Authentisch eben und ungeschönt.

Ja, das Lächeln. Das ist so eine Sache. Die meisten Menschen glauben, so erzählt der 1969 in Neuss geborene Fotograf, dass sie viel besser aussähen, wenn sie lachen würden. Er findet das nicht. Denn die Reduktion auf das Wesentliche, oder wie er sagt, auf die Neutralität, ist ihm das Wichtigste, und auch das, was ihn herausfordert. Das Lächeln auszuschließen, heißt für Sander, das Gegenüber zu erkennen. Und umgekehrt: Der Porträtierte sieht sich, so wie er wirklich ist. "Ich höre nicht eher auf, bis ich diese Neutralität habe", sagt er und lacht dann doch selbst. Nicht lauthals natürlich, sondern reduziert. Was heißt: Nur die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln ziehen sich eng zusammen.

Guter Platz für Kunst:14 Stelen mit nachts beleuchteten Porträts, die Dachkonstruktion der Tram-Haltestelle Schwabinger Tor und die Architektur wirken wie aus einem Guss. (Foto: Friedrich Bungert)

Wie lange sich der renommierte Fotograf mit Menschen beschäftigt? Er überlegt nur kurz. Lange, eigentlich schon immer, sagt er. Modefotografie, Architektur, aber immer Gesichter. Wofür die lange Vorrede, das lange Beschreiben? Weil er Gesichter sammelt. Gesichter seiner Heimat Deutschland, Gesichter Europas. Für sein Buch "Heimat - Deutschland, Deine Gesichter" ist er fünf Jahre durch die Republik gereist, hat die Menschen gesucht, die frei vor der Kamera stehen und ihre Geschichte, ihre Gedanken erzählen wollten. Groß und klein, jung und alt, bekannt und unbekannt. 1000 Menschen hat er dafür vor die Kamera geholt. Und einige dieser Porträts sind derzeit neben der Tram-Haltestelle am Schwabinger Tor zu sehen.

Wie auch Bilder seines zweiten Projekts "Faces of Europa". Auf 14 Stelen, die auf einem Metallquader stehen, sind Bilderrahmen angebracht. Vorder- und Rückseite je ein Foto. Nachts sind sie beleuchtet. Aus in die Quader eingebauten Lautsprechern kommen Stimmen. Leise und laute. Die Protagonisten sind zu hören, sie erzählen. Wer sie sind, was Heimat ist, was sie erlebt haben. Und wer sich die App getbaff herunterlädt, kann das Handy vor das Bild halten - es lädt plötzlich Filme und Interviews herunter, die Sander selbst mit den Menschen geführt hat.

Die Geschichten der Menschen - wie zum Beispiel von Jerry Kwarteng - zeigen die Vielfalt Europas. (Foto: Friedrich Bungert)

Viele Wege gibt es, sich diesen Menschen zu widmen. Man kann jedes Porträt einzeln betrachten. Oder die Menschen herausgreifen, die einen auf den ersten Blick berühren. Man kann sich mitten hinein stellen in die Stelen und - besonders nachts - dem Stimmenchor lauschen. Englisch, französisch, deutsch - die Sprachen vermischen sich, die Porträts werden zu einer homogenen Gruppe, die eines eint: den Blick auf das, was sie ausmachen, die Frage, wer sie sind und wohin sie gehören. Und unweigerlich möchte man Teil dieser Gruppe sein.

Da ist zum Beispiel Jerry Kwarteng aus Berlin. Auch er blickt ohne Emotion in die Kamera. In die Welt hinaus. Und der Betrachter versucht, in ihn hineinzublicken, schaut ihm in die Augen - und spürt etwas sehr Weiches darin, aber auch etwas Trauriges. Im Interview löst sich das Geheimnis seines Blicks. Als Kind war er schwer krank, "mein Körper", sagt Jerry, "war Schrott, meine Beine krumm". Seine Eltern, die in den Siebzigerjahren in Berlin lebten, seien geschockt gewesen. Sie wollen zurück nach Ghana. Sie lassen das Baby in Deutschland zurück, um es medizinisch besser betreut zu wissen. Eine Frau kümmert sich um das Kind. Liebevoll. Nach Jahren mit Eisenstangen an den Füßen, geht es bergauf. Später geht er nach Amerika, spielt an der Schule Baseball. Kämpft gegen Rassismus. Heute ist er stark, muskulös und voller Offenheit. Jerrys Geschichte ist eine von vielen. Vielen guten, vielen berührenden.

Für die Fotos, wie dieses hier von Bischof Chrisostonos, sollte man sich allerdings Zeit nehmen. (Foto: Carsten Sander)

Alle Länder der EU zu bereisen, Menschen einzufangen - das ist Sanders Ziel. Monatelang plant der Fotograf die Reise in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt. Doch er muss im März den Beginn seiner Reise wegen Corona verschieben. Dann traut er sich: drei Monate später. 40 000 Kilometer legt er zurück. In einem blauen Camper mit Europas gelben Sternen. Er ist Schlafstätte, Küche, Wohnung und Atelier zugleich. Alle Porträts entstehen in diesem Bus. Und alle machen mit. Ob der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, ob ein hoher Würdenträger der orthodoxen Kirche. Das "Du", das er den Menschen schenkt, ist sein ganzes Geheimnis und der Türöffner für seine starken Bilder. Nicht alle Länder schafft er. Ungarn zum Beispiel. "Da war alles schwierig, alles sehr kompliziert", sagt Sander. "Ich bekam schlechte Laune und hatte keine Lust mehr!" Kaum zu glauben, wenn man Sander vor sich hat. Der angetrieben ist von einer Idee. Hartnäckig ist. Nicht loslässt. Und weitermacht, Gesichter sammelt.

"Faces of Europe": Ausstellung mit Fotografien von Carsten Sander am Schwabinger Tor. Zu sehen bis zum 18. Juli.

© SZ vom 09.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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