Online-Rollenspiele:Heroin aus der Steckdose

Zerbrochene Ehen, verwahrloste Wohnungen: Wer süchtig nach Online-Spielen ist, verliert sein bisheriges Leben. Doch Opfer sind nicht nur die Süchtigen, sondern auch ihre Angehörigen. Auch Christoph und Christine Hirte haben ihren Sohn an ein Online-Rollenspiel verloren. Nun kämpfen sie gegen die Sucht.

Gudrun Passarge

Zerbrochene Ehen, abgebrochene Studien, ein 20-Jähriger, der gerade zum dritten Mal in verschiedenen Schulen die 9. Klasse gemacht hat, zuletzt endlich erfolgreich. Die Lebensläufe der Aussteiger, die in Stichworten über ihre Online-Spielsucht berichten, offenbaren Brüche in der Biographie, sie sprechen von verlorener Lebenszeit und der Gefahr, rückfällig zu werden. Genauso wie die Gespräche mit betroffenen Eltern das Bild von Leid und Elend der Angehörigen vermitteln.

Symbolbild: Computerspielsucht, 2009

Manche gehen noch nicht mal mehr auf die Toilette: Wer der Online-Spielsucht erlegen ist, verliert oft sein ganzes bisheriges Leben.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Christine und Christoph Hirte kennen diese Problematik. Seit vier Jahren widmen sie sich diesem Thema, aus persönlicher Betroffenheit heraus. "Wir haben unseren Sohn an World of Warcraft verloren", haben sie in zahlreichen Interviews und Vorträgen schon erläutert. Für sie war es der Grund, die Öffentlichkeit zu suchen, um Online-Sucht bekannt zu machen und anderen Eltern ein Netzwerk zu schaffen.

"Warum engagiert sich die Kirche nicht? Warum werden die Zusammenhänge in der Politik völlig vernachlässigt?" Hirte schüttelt den Kopf, wenn er über die Anerkennung der Mediensucht in der Gesellschaft spricht. Es gebe so viele Schulschwänzer, Schulabrecher, junge Menschen mit Depressionen oder Kreuzschmerzen - "und keiner schaut hin, ob es mit Mediensucht zu tun hat".

Seit 2007 befasst er sich mit dem Thema, hat mit Betroffenen gesprochen, mit Aussteigern, Ärzten, Suchtberatern, Politikern. Hirte, 54, ist ein Mann mit einer Mission, der offenbar jede freie Minute außerhalb seines Berufslebens als selbständiger Systemberater dem Kampf gegen die Mediensucht widmet. Inzwischen wird er zu Workshops und Tagungen als Fachmann eingeladen, zuletzt von der Landesstelle für Suchtfragen in Hamburg, wo man ihm bestätigt habe: "Sonst gibt's keinen, der da so tief drinsteckt in der Thematik."

In Berührung damit kam er 2007. Hirtes ältester Sohn studierte auswärts, hatte eine eigene Wohnung. Sie telefonierten regelmäßig, wenn auch nicht so häufig, wie sich die Eltern gewünscht hätten, aber sie dachten, alles sei in Ordnung. Bis sie nach einem Wasserrohrbruch von der Hausverwaltung die Nachricht bekamen, dass die Unterkunft ihres Sohnes völlig verwahrlost sei.

Sie besuchten ihn und erkannten schnell, was die Ursache des Übels war: das Computerspiel World of Warcraft, ein Rollenspiel mit hohem Suchtpotenzial, wie die Eltern erzählen. Vater Hirte klickt zwei-, dreimal und die Figuren des Spiels marschieren über den Bildschirm. Mal muss ein Wolf erschlagen werden, mal Bauern, mal fliegt einer mit einem Drachen über Landschaften, mal landet ein Luftschiff, "das ist doch gigantisch", sagt die Mutter zu dem Luftschiff, sie verstehe es, wenn Freunde von Fantasy sich angesprochen fühlten.

Der Sohn wollte sich von dieser Welt nicht mehr lösen. "Er ist uns ganz entglitten", sagt Christine Hirte. Da er die Therapie nicht annehmen wollte, sagten sie ihm, "dann können wir dich nicht mehr finanzieren".

Ihr Sohn ging. Das war am 11. März 2007. "Seitdem haben wir ihn nicht wiedergesehen", sagt der Vater. Die Eltern versuchten in Kontakt zu bleiben, schickten ihm Nachrichten. Immerhin hat er vor einem Jahr per Mail geantwortet. So wissen die Eltern, dass es ihm wohl wieder besser geht. Anfangs war es für sie schwer. Vier Wochen lang hätten sie versucht, zu verstehen, was mit ihrem Sohn passiert sei. Sie fanden heraus, dass es etwa 1,5 Millionen Computerspielsüchtige in Deutschland gibt. Und es gab ihnen den Mut, darüber zu sprechen.

Selbsthilfegruppen - für viele wie eine Art Hafen

Hirtes gründeten die Elternselbsthilfe rollenspielsucht.de, gingen in die Öffentlichkeit. Nach so einem Auftritt im Fernsehen dauere es Monate, bis alle Mails und Telefonate beantwortet seien, erzählt Hirte. 2008 gründeten sie eine Selbsthilfegruppe, die sich einmal im Monat in der Westendstraße trifft. "Es ist das Ziel unserer Arbeit, dass wir die Eltern stark machen, denn bei ihnen liegt der Schlüssel zur Lösung", sagt Hirte. Viele Betroffene hätten schon einen langen Leidensweg hinter sich, sagt Christine Hirte. "Sie sagen uns, wir sind die ersten, die sie verstehen." Die Gruppe sei für viele eine Art "Hafen".

Christoph und Christine Hirte, Gründer einer  Elterninitiative gegen Mediensucht, 2011

Christoph und Christine Hirte haben ihren Sohn an ein Online-Rollenspiel verloren. Nun kämpfen sie gegen die Sucht.

(Foto: Robert Haas)

So ist es auch der alleinerziehenden Mutter von Dominik (Name geändert) gegangen, deren Sohn abhängig war, "seit es World of Warcraft gibt". Für sie sei es ein großer Trost gewesen, festzustellen, "dass ich nicht der größte Versager bin unter allen Müttern". Bevor sie Hirtes traf, hatte die Mutter schon Angehörigen-Selbsthilfegruppen von Alkoholikern und psychisch Kranken besucht. "Das war sehr interessant, ganz gleich ob Tabletten-, Alkohol- oder Spielsucht, die Phänomene sind identisch."

Die Gruppe habe ihr sehr geholfen. Sie hat mittlerweile ihrem Sohn die Finanzen gestrichen - und dieser Kampf ist ihrer Stimme immer noch anzuhören. Zuvor hatte sie bereits die DSL-Leitung abgemeldet - mit dem Erfolg, dass Dominik ausgezogen ist, "und dann ging's erst richtig los mit dem Spielen." Mittlerweile ist er 25 und, so vermutet die Mutter, es drohe ihm die zweite Zwangsexmatrikulation.

Sie hat zwar noch Kontakt zu ihm, weil sie "gegen alle Ratschläge" seine Wäsche macht, kann aber mit ihm nicht über sein Leben reden: "Da läuft er davon." Immerhin versucht sie jetzt, für sich selbst einen Weg zu finden. Deswegen geht sie derzeit auch seltener in die Gruppe, "ich versuche, es zu verdrängen".

Hirtes kennen diese Verhaltensweise. Sie berichten von unterschiedlichsten Reaktionen der Angehörigen. Manche würden sich aufgeben, "sie lassen sich erniedrigen". Sie würden von den Kindern beschimpft und manchmal gar körperlich angegriffen. "Viele sind seelisch am Ende", hat Christine Hirte beobachtet und ihr Mann berichtet von einer Psychologin, die Angehörige von Süchtigen therapiert, die an Herz- und Rückenerkrankungen leiden. "Sie sagt, es wäre, als wenn ihnen das Herz oder das Rückgrat gebrochen worden wäre." Deswegen freuen sich die Eltern, wenn sie oder andere Betroffene aus der Gruppe aus den eigenen Erfahrungen heraus helfen können, ihnen zu vermitteln, dass eine klare Sprache nötig sei.

Hirtes mangelt es nicht daran, mit klaren Worten setzen sie sich dafür ein, dass Online-Spielsucht als Krankheit anerkannt wird. Sie sammeln Unterschriften für Jugendschutz im Internet, fordern eine Prüfung, welche Spiele sich für welches Alter eignen und sehen nicht nur World of Warcraft als Gefahr. "Auch Farmville macht uns große Sorge", ganz abgesehen von anderen Rollenspielen, der Pornographie-Sucht, der Handy- oder Chat-Sucht. Bei Sucht-Tagen sind Hirtes immer mit "ihrem Kevin" unterwegs. Sie ketten die Schaufensterpuppe an einen Computer, schmeißen daneben ein paar Getränke-Dosen und Pizzakartons.

Unter dem Stuhl steht ein WC-Eimer, denn "manche gehen gar nicht mehr auf die Toilette, eine Mutter hat mal zwölf Flaschen Urin im Schrank gefunden", erzählt Christine Hirte. Kevin kommt an bei den Besuchern, besonders die Ketten lassen viele zweimal hinschauen. Und helfen mit, dass die Gefahr des "Heroins aus der Steckdose" nicht mehr unterschätzt wird, dem so schwer zu entkommen ist.

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