SZ-Serie Olympisches Erbe:Ein glänzender Tag verblasst

SZ-Serie Olympisches Erbe: Auf dem Weg ins Ziel: Hildegard Falck (Mitte, Startnummer 159) im 800-Meter-Finale von München; links daneben die am Ende drittplatzierte DDR-Läuferin Gunhild Hoffmeister.

Auf dem Weg ins Ziel: Hildegard Falck (Mitte, Startnummer 159) im 800-Meter-Finale von München; links daneben die am Ende drittplatzierte DDR-Läuferin Gunhild Hoffmeister.

(Foto: Horstmüller/imago)

Drei Goldmedaillen innerhalb von nur einer Stunde: Am 3. September 1972 ist die bundesdeutsche Leichtathletik auf ihrem Höhepunkt. Heute kommt Olympias Kernsport bei der Jugend kaum noch an.

Von Michael Gernandt

Nur noch vierzig Meter bis ins Ziel. Und genau dort, so hat es den Anschein, nimmt die Läuferin wahr, wie sich in den rauschenden Beifall der 80 000 Zuschauer ein Hauch von Angst eingeschlichen hat. Eine Warnung von den Rängen. Gefahr in Verzug? Die blonde Athletin mit dem leicht schleppenden Schritt beginnt, ihren Kopf zu bewegen. Erst ein paar Schritte in der Senkrechten, auf und ab nickend, dann, ein Stück weiter dem Ende des Wettkampfs entgegen, schüttelt sie ihn in der Waagrechten. Will sie so ihre Augenwinkel in eine bessere Kontrollposition bringen? Fünf Schritte vor dem Strich, der sie vom Sieg im Finale des olympischen 800-Meter-Rennens trennt, allerdings wackelt das Haupt von Hildegard ("Hilde") Falck nicht mehr. Sie ist sich nun ihrer Sache sicher, denkt: "Die kommt nicht mehr ran." Die - das ist Niole Sabaite, Litauerin mit UdSSR-Pass. Ihre Aufholjagd auf die eingangs der Zielgeraden spurtend in Führung gegangenen Deutschen ist gescheitert, ihr fehlt schließlich die Winzigkeit von zehn Hundertstelsekunden.

Sicherheitshalber verlängert Hilde Falck aus der Autostadt Wolfsburg die in olympischer Rekordzeit von 1:58,55 Minuten zurückgelegte 800-Meter-Strecke noch um zwei Stoßstangenlängen im Renntempo. Bleibt dann erst stehen. Verzieht keine Miene. Ist auffällig ernst. Misstraut sie ihrem guten Gefühl, anstatt den anschwellenden Lärm in der Arena positiv zu deuten und den Blick zu richten hinauf zum Ergebnisboard, das Zeugnis gibt vom Olympiasieg von Hilde Falck (FRG, damals die Abkürzung für Federal Republic of Germany, also Bundesrepublik Deutschland)? Jetzt endlich lacht sie, strahlt und kreiselt glückselig ihre Arme wie bei der Morgengymnastik vor dem Frühstück.

50 Jahre später sagt sie im SZ-Gespräch, angesprochen auf den Augenblick des Verharrens: "Ich wollte diesen Moment nur für mich allein festhalten."

Auch das Publikum hat an diesem Tag eine Goldmedaille verdient

Was sie nun mit Sicherheit weiß: Sie ist erst die zweite Deutsche nach Lina Radke 1928, die eine olympische Goldmedaille im 800-Meter-Lauf gewonnen hat. Was sie in diesem Moment nicht wissen kann: dass erst durch ihren Spurtsieg der erste Sonntag im September 1972 das historische Etikett "Goldener Sonntag" erhält. In der Stunde zwischen 17 und 18 Uhr an diesem 3. September war Falcks Triumph bereits der dritte für die Leichtathleten und Leichtathletinnen aus Deutschland West - eine für sie noch nie registrierte Tagesration. Der Speerwerfer Klaus Wolfermann und der Geher Bernd Kannenberg waren Hilde Falck zuvorgekommen. Und die hatte das nicht einmal bemerkt. "Ich war so auf mich fixiert", erinnert sie sich und schildert, wie sie auf dem unterirdischen Weg ins Stadion wohl das Ende des Tunnels wahrnimmt, den mentalen Tunnel der Konzentration indes noch nicht durchschritten hatte. Nichts hören, nichts sehen: Erst der Startschuss weckt sie aus ihrer Trance.

Bei Lichte besehen hätte das Internationale Olympische Komitee (IOC) an diesem Tag ein viertes Gold überreichen können: den Münchner Zuschauern. Jedoch erst 1973 holte der Ringe-Zirkel Versäumtes nach und widmete dem "fairsten Publikum der Welt" den "Cup Olympique". Von Anbeginn der bis zum Palästinenser-Überfall auf die Israelis am 5. September "heiteren Spiele" hatte das Publikum der Welt gezeigt, wie es die Leitlinie der Veranstalter zu interpretieren gedachte: mit viel Sympathie für die eigenen Sieger, frei von nationalistischer Überhöhung, mit wohltemperiertem Beifall für die Gäste aus dem Ausland, frei von Ressentiments, mit Empathie für die sportlich Unterlegenen. Alles überwölbt vom olympischen Wert schlechthin: der Fairness.

Zu Höchstform waren die Stadionbesucher am Goldenen Sonntag aufgelaufen. Klaus Wolfermanns Speer trug das Crescendo ihrer Stimmen über die 90-Meter-Marke, seine Umarmung mit dem um zwei Zentimeter besiegten Favoriten Janis Lusis aus Riga, damals UdSSR, rührte so manchen Zeugen des Duells zu Tränen und löste mitfühlenden Applaus aus. Hilde Falck drückte eine mit der Anschubwirkung eines Hochleistungsgebläses versehene Begeisterungswelle über die 800-Meter-Ziellinie. Bernd Kannenbergs 50 Kilometer langen Weg durch München beklatschten Hunderttausende an der Strecke und erleichterten dem Oberfeldwebel vom LAC Fürth das schwere Marschgepäck: "Ich konnte mir gar nicht erlauben, langsamer zu gehen, die Zuschauer hätten mich sonst weiter geschubst."

SZ-Serie Olympisches Erbe: Aufs Ziel fixiert: Klaus Wolfermann, Olympiasieger im Speerwerfen.

Aufs Ziel fixiert: Klaus Wolfermann, Olympiasieger im Speerwerfen.

(Foto: Eissner/imago)
SZ-Serie Olympisches Erbe: Am Ziel angekommen: Bernd Kannenberg, Olympiasieger über 50 Kilometer Gehen.

Am Ziel angekommen: Bernd Kannenberg, Olympiasieger über 50 Kilometer Gehen.

(Foto: Sven Simon/imago)

Offenbar beeindruckt von der herzlichen Aufgeschlossenheit waren auch die DDR-Sportler. Am Goldenen Sonntag waren im Olympiastadion sehr unverkrampfte Annäherungen zur Konkurrenz aus dem "kapitalistischen Ausland" zu beobachten. Nach dem Fünfkampf der Frauen, der vierten Entscheidung dieses Sonntags, fiel Christine Bodner aus Erfurt der mit Silber dekorierten Heide Rosendahl aus Leverkusen um den Hals; fröhlich lachend gratulierte Falcks Gegnerin Gunhild Hoffmeister aus Cottbus: "Hilde war eben die Bessere." Erstaunt fragte die SZ: "Schmilzt das Eis?"

Auf wunderbare Weise hat sich die Begeisterung des Publikums konserviert über ein halbes Jahrhundert hinweg bis zur kürzlich beendeten Europameisterschaft der Leichtathleten: ein echt münchnerisches Erbe der Spiele 1972, das symbiotische Ineinandergreifen des Olympiapark-Ambientes und der Begeisterung der Zuschauer am Goldenen Sonntag. Zeitzeugen von damals meinten gar, von den Rängen unterm Zeltdach sei diesmal beim Auftritt der zahlreichen deutschen Medaillengewinner gar eine Extraportion Emotion spendiert worden. München habe sich "von seiner schönsten Seite gezeigt", empfand Christina Hering, EM-Finalistin über 800 Meter und bekannteste Vertreterin der aktuellen Münchner Leichtathletik. Und wie vor 50 Jahren staunten die ausländischen Gäste über ihren aufgeschlossenen Gastgeber und bedankten sich. Norwegens Hürdenstar Karsten Warholm schlug vor, die EM künftig immer nach Deutschland zu vergeben. Gemeint war München.

Beim Laufen, Springen, Werfen fehlt der Jugend heute der Spaßfaktor

Das sportliche Guthaben allerdings, das die drei Sonntagshelden Falck, Wolfermann und Kannenberg weiland angelegt hatten, ist veruntreut worden. Seit einem Jahrzehnt verfällt der Kurs der nationalen Leichtathletik und steigt die internationale vom Hochsitz des Weltsports ab. Dass die erfreuliche Bilanz der EM 2022 mit sieben Gold-, sieben Silber- und zwei Bronzemedaillen zur Kehrtwende führen könnte, muss sich erst noch erweisen. Wer Antworten sucht auf die Frage, warum es so weit hatte kommen müssen, der sollte sich an Emil Zatopek erinnern, den mehrmaligen Olympiasieger der Nachkriegszeit. Verschmitzt wie sein Landsmann, der brave Soldat Schwejk, hatte der berühmteste Sportsmann der Tschechen die Bestimmung des Leichtathleten so erklärt: Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft.

Junge, mobile Menschen von heute indes pfeifen auf Zatopeks Sinnspruch, bouldern lieber Steilwände hoch, biken steile Berge runter, skaten über Betonrampen, kiten mit von bunten Drachen in luftiger Höhe beschleunigten Brettern über kappelige Meereswellen. Stichwort Spaßfaktor. Die Jugend von heute empfindet Olympias Kernsportart, das Laufen, Springen, Werfen offenbar als gestrig. Zu arbeitsintensiv, zu zeitaufwändig, zu eintönig?

Der Arzt und ehemalige Mittelstreckenläufer Thomas Wessinghage - Olympia-Teilnehmer 1972 über 1500 Meter und Europameister 1982 über 5000 Meter - sieht seinen Sport als Spiegelbild der heutigen Gesellschaft. "Es gibt Sportarten, die sich auf die Konsumgewohnheiten der aktuellen, jungen Gesellschaft viel besser eingestellt haben, und es gibt Sportarten, die ins Hintertreffen geraten sind. Und da fällt einem die Leichtathletik zuallererst ein", sagt der 70-Jährige. "Hungrig" seien Jungen und Mädchen nach wie vor, aber "dass sie bei der Leichtathletik landen, wäre schon ein Zufall".

SZ-Serie Olympisches Erbe: Ziemlich am Boden: die deutsche Leichtathletik, hier in Gestalt der Läuferin Sara Benfares bei der WM in Eugene/USA.

Ziemlich am Boden: die deutsche Leichtathletik, hier in Gestalt der Läuferin Sara Benfares bei der WM in Eugene/USA.

(Foto: Ezra Shaw/AFP)

Die Lieferkette zwischen Schule und Leistungssport ist gerissen, vom Universitätssport gar nicht zu reden. Die Bundesjugendspiele: aus der Mode gekommen. Der Schulwettbewerb "Jugend trainiert für Olympia": mehr Schein als Sein. Bleiben die Elitesportschulen des deutschen Sports. Nur sie räumen in Zusammenarbeit mit den Olympiastützpunkten dem schulpflichtigen Nachwuchs jene Möglichkeiten ein, die für die Weiterentwicklung der Talente unabdingbar sind. Zur ganzen Wahrheit freilich gehört auch: Das größte Stück Arbeit müssen nach wie vor die (von Corona gebeutelten) Vereine bewältigen.

Die Enkelgeneration der 72er-Leichtathleten muss sich einige Vorwürfe gefallen lassen: den Zeitenwandel verschlafen und die Wucht der Globalisierung des Sports unterschätzt zu haben. Die vielen EM-Medaillen verlieren jedenfalls im Weltmaßstab an Wert, weil die Globalisierung auch das Weltniveau in diesem Sport in die Höhe getrieben hat. Das eigentliche Problem jedoch ist, trotz krampfhafter Reformbemühungen, das System der deutschen Spitzensportförderung, unter deren Folgen auch die Leichtathletik leidet. Zu bürokratisch, zu kleinteilig, klagten Sportdirektoren der Verbände, ohne übergreifende Gesamtkonzeption. Wie aber soll die aussehen, wenn nicht endlich hinterfragt wird, wie die deutsche Gesellschaft - Politik, Wirtschaft, Bildungswesen, Gewerkschaften, Kirche - ihren Olympiasport eigentlich haben will?

Die Athleten und Athletinnen der goldenen August-Woche von 2022 warten auf überzeugende Antworten.

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