Olympia 1972 in München:Die Spiele als Zeitmaschine

Der Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 lässt das Geld sprudeln, München katapultiert sich mit einem Masterplan in die Zukunft. Fußgängerzone, Trabantenstädte und Verkehrsnetz werden in Rekordzeit verwirklicht. Doch der Fortschritt hat auch seinen Preis - und der muss auch nach 40 Jahren noch bezahlt werden.

Alfred Dürr

Es ist aus heutiger Sicht schon merkwürdig, welches Bild München in dem Jahrzehnt vor den Olympischen Spielen 1972 geboten hat. Zum Beispiel galt das heute als Wohn- und Ausgehquartier sehr begehrte Haidhausen noch als eher unattraktives Glasscherbenviertel. Mitten auf dem Marienplatz waren die Haltestellen von mehreren Straßenbahnlinien. Die Fahrzeuge stauten sich in der Kaufinger- und Neuhauser Straße, die später dann zur Fußgängerzone wurden. Am Stachus herrschte ein heilloses Verkehrschaos. Die Stadt stand vor einer Zeitenwende. Der Wiederaufbau nach dem Krieg war weitgehend beendet, die Einwohnerzahl stieg, und das "Wirtschaftswunder" bescherte gerade dem Zentrum eine wahre Flut von Autos.

Hochstraße über die Ludwigstraße in München, 1966

München im Aufbruch: Ein provisorische Hochstraße aus Stahl lenkt im Jahr 1966 den Verkehr der Von-der-Tann-Straße über die Ludwigstraße. Im Hintergrund der Odeonsplatz mit Feldherrnhalle und Theatinerkirche. Links die Bauarbeiten am U-Bahn-Tunnel.

(Foto: HUHLE, KURT)

Wegen der chronisch verstopften Innenstadt machte schon das Wort von der "Weltstadt mit Herzinfarkt" die Runde. So wie der legendäre Oberbürgermeister Thomas Wimmer beherzt den Schutt der Nachkriegsjahre weggeräumt hatte, packte jetzt sein Nachfolger Hans-Jochen Vogel engagiert die neuen Probleme an. Er wollte München modernisieren, die Stadt sollte unter den deutschen Metropolen mithalten können. Erstmals war ein eigener Stadtentwicklungsplan sozusagen das Kursbuch für dieses Vorhaben.

Gerhard Gross kam schon Anfang der 70er Jahre ins städtische Planungsreferat und dort arbeitet er in der Abteilung für Stadtentwicklung. Auf seinem Schreibtisch liegen die damaligen Konzepte, Studien und Zeichnungen. Die Kerngedanken des Plans von 1963: Die City sollte zum lebendigen Einkaufs- und Verwaltungsdistrikt werden, draußen - entlang der Gleise der Vorortbahnen - könnten dann neue Wohnsiedlungen entstehen. Vorgesehen waren "Trabantenstädte" auf der grünen Wiese wie Neuperlach. Schließlich galt es, ein völlig neues öffentliches Verkehrssystem mit U- und S-Bahnen zu schaffen.

Hier erfolgte eine wesentliche Weichenstellung. Nach zähen Verhandlungen setzte die Bahn durch, ihre Vorortstrecken durch einen Tunnel zwischen dem Hauptbahnhof und dem Ostbahnhof zu führen. Die Stadt wollte dagegen die Trambahnen im Bereich der heutigen Fußgängerzone unter die Erde legen.

Und dann war da noch das Hauptstraßennetz: Gross zeigt einen Plan, auf dem sich ein ganzes Bündel von dicken roten Ringstraßen wie ein Spinnennetz über die Stadtkarte ausbreitet. Aber gigantische Autobahnkreuze auf dem Areal des heutigen Westparks oder Schnellstraßen durch die Innenstadt entlang der Isar? Solche Szenarien wurden dann glücklicherweise doch nicht realisiert. Der Altstadtring aber wurde kräftig ausgebaut.

Erstmals protestierten Bürger - sie wollten mitreden

Erstmals begehrten Bürger gegen diese Form der "autogerechten Stadt" auf: Das traditionelle Stadtbild würde verloren gehen durch die neuen Straßenschneisen in der Altstadt. Die Bodenpreise stiegen, die Wohnbevölkerung wurde aus der Innenstadt verdrängt. Dieser Protest sei nicht ohne Effekt auf die Stadtverwaltung geblieben, berichtet Gross. Manche Maßnahmen waren nicht mehr aufzuhalten, wie etwa der Tunnel unter dem Prinz-Carl-Palais. Andere Mammutprojekte jedoch, die Wohnquartiere massiv beeinträchtigt hätten, verschwanden im Papierkorb. Bürger sollten in die Planungen eingebunden werden. Diesen Anspruch habe Hans-Jochen Vogel auch eingelöst.

1966 erhielt München den Zuschlag für Olympia. "Der Clou war", sagt Gross, "dass man den Masterplan für das moderne München in der Tasche hatte und dass jetzt das Geld floss, um ihn rasch umzusetzen." Der Zuschlag wirkte wie ein Katalysator oder wie eine Zeitmaschine. Planungsprozesse, die sonst ewig dauern, bekamen plötzlich eine ungewohnte Dynamik.

Mit Hilfe von Bund und Land stemmte die Stadt einen beispiellosen Kraftakt. Der Ausbau des U- und S-Bahn-Systems kam rasch voran. In Rekordzeit entstanden Wohnungen und Straßenverbindungen. Die S-Bahn-Stammstrecke unter der Innenstadt wurde Realität. Oben konnten die Passanten in der neuen Fußgängerzone unbelästigt vom Verkehr flanieren - eine deutliche Aufwertung für die Innenstadt.

Geradezu phänomenal war, was mit dem Oberwiesenfeld passierte. Diese riesige Freifläche im Münchner Norden, mit der man eigentlich nie so richtig etwas anzufangen wusste, wandelte sich in den Olympiapark. Die Bauten und die neu gestalteten Landschaft wurden zu einem ein architektonischen Schmuckstück für die Stadt und ihre Besucher.

Entwicklungsschub mit Kehrseite

Nach der Euphorie der Spiele von 1972 folgte freilich sehr schnell auch die Ernüchterung. Wesentliche Ziele des Stadtentwicklungsplans von 1963 konnten zwar in einer sehr viel kürzeren Zeit als ursprünglich vorgesehen verwirklicht werden. Die Basis für das attraktive und wirtschaftlich starke München war gelegt.

Stachus in München, 1959

Auf dem Stachus, dem damals angeblich verkehrsreichsten Platz Europas, versuchen Polizisten, den Verkehr zu regeln.

(Foto: HUHLE, KURT)

Auf der anderen Seite war die prächtige Wachstumsperiode mit der ersten Ölkrise von 1973 und dem Einbruch der Konjunktur vorbei. Die rasante Fahrt, die München vor allem auch im Zusammenhang mit den Spielen aufgenommen hatte, wurde deutlich gebremst. Das zeigte sich etwa im Immobilienbereich. Die überhitzte Baukonjunktur produzierte Wohnungshalden.

Die kritischen Positionen der international orientierten Organisation Club of Rome ("Die Grenzen des Wachstums") fielen bei Bürgern und Planern in München auf fruchtbaren Boden. Die Aussage "unser schönes München soll nicht dem Moloch Kapital geopfert werden" habe man damals oft gehört, berichtet Gross. Vor dem Hintergrund der Katerstimmung nach den Olympischen Spielen verabschiedete der Stadtrat 1975 einen neuen Stadtentwicklungsplan, der eine deutlich andere Prägung als sein Vorgänger hatte.

"Das Konzept von 1963 war eher ein Ingenieursplan, der sich an städtebaulichen Zielen orientierte", sagt Gross, "nun sollten vor allem soziale und gesellschaftliche Aspekte in der Stadtplanung berücksichtigt werden." Man strebte nun die "Stadt im Gleichgewicht" an, die allen Bürgern möglichst viel Lebensqualität bringen sollte. Also kein Wachstum um jeden Preis, sondern eher die Bewahrung des Bestehenden und eine behutsame Entwicklung der Altstadt, damit man den Charakter Münchens nicht zerstört.

Das alles wirkt bis heute, wo es wieder neue Perspektiven der Stadtentwicklung gibt, nach. Immobilienspekulation und Luxusmodernisierung in einer attraktiven Stadt sind wichtige Themen für die Bürger. Die Stadt versucht etwa Bewohner und Geschäftsleute in besonders gefährdeten Vierteln mit sogenannten Erhaltungssatzungen, die teure Modernisierungen von Häusern verhindern, zu schützen.

In der Verkehrspolitik hat man längst von großen Straßenprojekten Abschied genommen. Das Umsteigen auf Busse und Bahnen ist viel wichtiger. Verkehrsberuhigung in den Vierteln soll die Wohnqualität verbessern.

Der Entwicklungsschub, der durch die Olympischen Spiele beschleunigt wurde, hat auch seine Kehrseite. München ist zum sehr teuren Pflaster geworden. Immer mehr Menschen wollen nach München ziehen, die Flächen für neue Wohnungen werden knapp. Immobilienpreise und Mieten steigen. Wo kann man also in gewachsenen Vierteln "nachverdichten", wie lassen sich Gewerbe- in Wohngebiete umwandeln, und wie sieht es mit der Siedlungsentwicklung am Stadtrand aus? Das sind heute, 40 Jahren nach dem sportlichen Großereignis, die drängenden Fragen.

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