Von wegen Normalität. Am vergangenen Donnerstag wollten die städtischen Kliniken in der Muffathalle ein großes Fest für ihre Mitarbeiter ausrichten. Endlich wieder einmal feiern, Party statt Pandemie. Das war der Plan. Doch aus dem wurde nichts. Die Sause wurde abgesagt, wegen der Infektionsgefahr, wie ein Sprecher bestätigt - es falle zurzeit ohnehin schon so viel Personal aus. Ein Fest mit mehr als 1000 Menschen passe da einfach nicht in die Zeit.
Die Pandemie - sie spielt in der Stadt wieder eine größere Rolle, vielerorts ist das zu spüren. "Auf dem Sommerfest gewesen: ich jetzt auch zwei Striche", liest man in der Whatsapp-Gruppe. Das Wirtshaus an der Ecke hat jetzt mittags nicht mehr auf: zu wenig Personal. Der Einzelhändler, den man aufsuchen will, hat geschlossen: wegen Krankheit.
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Die Unsicherheit - sie ist zurückgekehrt, und das ausgerechnet jetzt. "Spätestens seit Pfingsten ging es nach zwei Jahren endlich wieder richtig aufwärts", sagt Wolfgang Fischer von der Vereinigung City Partner, die den Einzelhandel in der Innenstadt vertritt. In den vergangenen zwei Jahren sanken die Corona-Zahlen im Sommer, nun steigen sie. Das, so Fischer, betrachte man schon mit Sorge. Und nicht nur die Geschäftsleute fragen sich: Wenn das jetzt schon so ist, was kommt dann im Herbst? Ein neuer Lockdown? Maskenpflicht drinnen? Doch noch das Aus für die Wiesn?
Das Oktoberfest ist ja nicht nur ein großes Fest. Es ist auch ein Gradmesser, wie es um die Stadt steht, ein Thermometer für ihre Betriebstemperatur. Wird es jetzt zum Fieberthermometer?
Beim Frühlingsfest zeigte sich: Volksbelustigung hatte Nachholbedarf
Am 22. April war die Eröffnung des Münchner Frühlingsfests. Normalerweise ist das ein eher beschauliches Ereignis. Doch diesmal brummte der Nordteil der Theresienwiese wie sonst nur an einem Oktoberfest-Samstag. Ganz klar, Volksbelustigung hatte erheblichen Nachholbedarf. Eine Woche später gab Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) bekannt: Die Wiesn 2022 wird stattfinden. Und so ziemlich die meistgestellte Frage Anfang Mai war: "Freust dich schon auf die Wiesn?" Die Wiesnwirte berichteten bald von einem Rekordandrang bei den Reservierungen.
Im Juni dann, als die Corona-Inzidenzen erst stabil auf hohem Niveau blieben und dann langsam kletterten, lautete die Frage schon eher: "Gehst du heuer auf die Wiesn?" Seit die Zahlen stark ansteigen, trotz Wegfall der Bürgertests, ist die aktuelle Formulierung eher: "Findet die Wiesn heuer überhaupt statt?" In den vergangenen zwei Jahren wurde sie abgesagt, wegen Corona. Jetzt sind es aber keineswegs nur die Infektionszahlen, die das Oktoberfest gefährden könnten.
Allein die Stadt braucht 1200 Sicherheitskräfte in zwei Schichten
Manche Wirte, heißt es, haben Sorgen, ob sie überhaupt genügend Sicherheitspersonal bekommen. Zu Spitzenzeiten braucht ein großes Bierzelt an die 120 Security-Leute, und der Markt ist leer gefegt. Dazu trägt auch die Stadt bei, sie braucht an vielen Tagen um die 1200 Sicherheitskräfte in zwei Schichten, allein für Taschenkontrollen an den Eingängen und allgemeine Überwachungsaufgaben.
Hinzukommt das Energieproblem. In den vergangenen Jahren, in denen die Wiesn stattfand, rechneten die Stadtwerke stolz vor, wie sie die 16 Zelte und gut 150 Schausteller versorgen: mit sehr viel "M-Ökostrom" und sehr viel "M-Ökogas". Heute sieht man das in einem ganz anderen Licht. Die Wiesn verbraucht an 16 Tagen gut drei Millionen Kilowattstunden Strom, das entspricht dem Jahresbedarf von 1200 Haushalten. Hinzu kommen 200 000 Kubikmeter Erdgas, so viel brauchen normalerweise 85 Einfamilienhäuser das ganze Jahr über. Was ist, wenn Gas rationiert werden muss? Bleiben dann die Zeltküchen kalt, gibt es dann zum Bier nur noch Brotzeitbrettl? Nicht jeder ist da so hoffnungsfroh wie Wiesn-Stadträtin Anja Berger von den Grünen: "Da vertraue ich auf unseren Wirtschaftsminister, dass der bis zum Herbst Alternativen zum russischen Gas findet."
Die Wiesnwirte betonen, es laufe alles nach Plan
Fragt man die Wiesnwirte, bekommt man meist die Antwort: Es läuft alles nach Plan. Antje Haberl von der Ochsenbraterei sagt: "Wir würden doch jetzt nicht aufbauen, wenn wir nicht glauben würden, dass die Wiesn stattfindet." Engpässe beim Personal sieht sie noch nicht, viele seien seit Jahren und Jahrzehnten dabei, die freuten sich alle auf den Herbst. Auch die Sicherheitsfirma sei zuversichtlich, genügend Einsatzkräfte zu bekommen. Ähnliche Antworten bekommt man auch von den anderen Wirten. Aber es klingt manchmal auch ein bisschen danach, dass man nach zwei Jahren Pause sehr bemüht ist, das Fest nicht schlecht zu reden. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Wiesnwirte auf eine gemeinsame Sprachregelung geeinigt hätten. Peter Inselkammer, Sprecher der Wiesnwirte, findet jedenfalls markige Worte: "Selbstverständlich findet die Wiesn statt! Davon sind wir felsenfest überzeugt."
Auch Wiesn-Stadträtin Anja Berger sagt: "Ich gehe auf alle Fälle davon aus, dass die Wiesn stattfindet." Mit Impfen und Boostern ließen sich die schlimmsten Auswirkungen einer Corona-Erkrankung offenbar verhindern, Berger hofft, "dass viele Leute das auch nutzen". Eine kurzfristige Absage des Fests wäre für alle Beteiligten "eine Katastrophe".
Auch der städtische Wirtschaftsreferent und Wiesn-Chef Clemens Baumgärtner (CSU) hält an der Wiesn fest. Es störe ihn "kolossal", sagt er, wenn so getan werde, als sei das Oktoberfest "die einzige Begegnungsstätte, die es dieses Jahr gibt". Das Oktoberfest sei nicht "unvergleichlich anders" als Veranstaltungen in Fußballstadien, Clubs oder Gaststätten. Nach dem Frühlingsfest seien die Infektionszahlen nicht gestiegen. Und eine besonders gefährliche Virusvariante sei auch nicht in Sicht. "Trotzdem wird mit aller Gewalt versucht, das Oktoberfest so darzustellen, als sei es das Übelste vom Üblen."
Und was sagt der Oberbürgermeister, der schon vor der Zusage stark mit sich gerungen hat, ob ein Volksfest mit sechs Millionen Besuchern gerade in die Zeit passt? "Ich kann die Sorge der Oktoberfest-Beschicker natürlich verstehen", sagt Dieter Reiter (SPD). Bei einem nochmaligen Ausfall des Oktoberfests, das haben viele Schausteller immer wieder betont, wird es um die Existenz gehen. "Für die Stadt als Veranstalter kann ich dazu nur sagen: Die Wiesn steht nicht auf der Kippe", sagt Reiter. Nur eine Einschränkung macht der OB - eine, auf die er selbst keinen Einfluss hat: "Und dabei bleibt es auch, solange Bund und Freistaat Volksfeste für epidemiologisch vertretbar halten und keine anderen Vorgaben beschließen."
"Nirgends trägt wer eine Maske."
Die CSU und die FDP wollen die Wiesn unbedingt durchziehen. Die hohen Infektionszahlen machen CSU-Fraktionschef Manuel Pretzl keine Angst. "Den Leuten passiert ja nichts." Sorge, dass sich München international den Ruf verdirbt, wenn das Oktoberfest zur Virenschleuder wird, hat er nicht. "Schauen Sie mal in die Urlaubsregionen, da stehen die Menschen dichtest gedrängt vor und in Sehenswürdigkeiten. Und nirgends trägt wer eine Maske."
"Wir können gar nicht mehr absagen", sagt Gabriele Neff von der FDP. "Die Brauerei-Zelte können das auffangen, die anderen würden Pleite gehen." Die Gesellschaft habe einen Punkt erreicht, an dem sie mit dem Virus leben müsse. Jeder müsse für sich entscheiden können, ob er auf die Wiesn gehe oder nicht.
Wucherpreise auf dem Oktoberfest:Weiterverkauf von Wiesntischen bleibt verboten
Eine Eventagentur bot die Tische für vierstellige Summen an. Vor dem Oberlandesgericht unterliegt sie nun gegen die Betreiber der Ochsenbraterei. Das Urteil gilt als Meilenstein in einem schon lange andauernden Kampf.
Wenn Bund oder Land rechtlich noch eingreifen würden, könnte die Stadt aber schon noch absagen. Bis zum 13. September, so ist zu hören, läuft die Frist, in der die Kommune ohne Regressforderungen der Wirte und Schausteller das Oktoberfest abblasen könnte. So soll es in den Verträgen stehen. Der Fraktionsvorsitzende von ÖDP/München-Liste im Stadtrat, Tobias Ruff, glaubt, dass das nicht nötig sein wird, weil die aktuelle Welle bald brechen und es zu Beginn des neuen Schuljahrs eher ein Corona-Tal geben werde. Das Oktoberfest sei überdies "ganz was Wichtiges" und identitätsstiftend für München. Nur Stefan Jagel (Linke) gibt sich als leise mahnende Stimme im hoffnungsfrohen Rathaus: Mit Blick auf die Belastungssituation der Krankenhäuser solle besser noch einmal darüber nachgedacht werden, ob die Wiesn wirklich stattfinden könne.
Wenn die Wiesn stattfindet, werden 9000 Teilnehmer im Festzug mitmarschieren
Gibt es ein Fest, gibt es auch wieder einen Festzug. Nach zwei Jahren Pause bereiten sich die Trachten- und Schützenvereine dafür vor. Die Anmeldefrist war schon früh im Jahr, und 180 Gruppen mit mehr als 9000 Teilnehmern wollen mitziehen. Das sind so viele wie vor der Pandemie. Die Organisation des Mega-Events läuft über den Verein Festring München. Dort gibt man sich optimistisch, man arbeite im Moment mit der Annahme, dass der Zug stattfinde, heißt es. Aber so wirklich zitieren lassen möchte sich mit dem Optimismus auch niemand.
Die Skepsis ist omnipräsent, äußert sich aber vor allem in dem, was nicht gesagt wird. "Die meisten freuen sich eher verhalten aufs Oktoberfest", berichtet Ursula Fröhmer von Tracht und Heimat über ihre Kunden. Von den Brauereien, Händlern und Trachtenvereinen vernehme sie schon skeptische Worte. Viele befürchteten, dass die Wiesn doch noch kurzfristig abgesagt werde.