Oktoberfest:Wenn Festzelte zu Kathedralen werden

Eigentlich sollte Michael von Hassel die Menschenmassen auf dem Oktoberfest fotografieren. Dann entdeckte er die Nächte.

Von Franz Kotteder

10 Bilder

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

1 / 10

Gewiss, man kann's auch übertreiben mit der Verherrlichung des Oktoberfests. Daran denkt man zuerst, wenn die Rede ist von "Oktoberfest Cathedrals". Ein Bierzelt als Kathedrale? Klingt irgendwie unpassend: Hier hört man eher selten fromme Gesänge oder gregorianische Choräle. Sondern aus christkatholischer Sicht eher Fragwürdiges wie "Highway To Hell" oder auch deutsches Liedgut mit dem teuflischen Refrain "Hölle, Hölle, Hölle!"

Im Bild: das Hackerzelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

2 / 10

Michael von Hassel hat mit dem Titel seiner Ausstellung in der Rathausgalerie keineswegs untertrieben. Der Münchner Fotokünstler hat die 14 großen Bierzelte des Oktoberfests abgelichtet. Tatsächlich sieht man auf seinen Fotos aber viel mehr als das: Die Bilder vibrieren förmlich vor Energie, man spürt die Intensität, mit der hier normalerweise Gaudi zelebriert wird. Und das, obwohl kein Mensch auf diesen Fotos zu sehen ist. Oder gerade deswegen. Denn wie man einen Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann, nimmt man so ein Bierzelt wegen der vielen darin feiernden Menschen ja oft nicht wahr. Sind die Menschen weg, sieht man plötzlich eine ganz eigene Welt. Wenn man so will, stellt sich so etwas wie göttliche Ruhe ein.

Im Bild: das Augustiner-Festzelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

3 / 10

Die Wirkung dieser Bilder ist erstaunlich, Esoteriker würden wohl von "Kraftorten" reden. Menschen, die etwas geerdeter sind, können sich das - zum Teil - auch anders erklären. Mit der klaren Zentralperspektive und der Konzentration auf einen Fluchtpunkt, die Michael von Hassel geradezu beispielhaft durchhält in seiner Bildkomposition. Durch die leichte Verfremdung, die mittels Mehrfachbelichtung und Übereinander-Projizieren von (in diesem Fall) bis zu sieben Negativen entsteht, erreicht von Hassel eine Art Hyperrealismus, der den Bildern von Andreas Gursky nicht unähnlich ist. Wobei Michael von Hassel aber auf jegliche computertechnische Veränderung verzichtet. Das ist eines seiner Arbeitsprinzipien.

Im Bild: die Ochsenbraterei

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

4 / 10

Der 37-jährige Münchner ist Autodidakt, hat nie eine Fotoschule oder gar eine Akademie besucht. "Ich habe immer schon fotografiert", sagt er, "seit mir meine Oma mal eine Kamera geschenkt hat. Da war ich noch ein kleiner Bub." Es blieb lange ein Hobby, auch während der Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Bayerischen Landesbank.

Hassel war zeitweise in London, als Investmentbanker. "Eine kranke Welt", so empfand er es damals schon. Er studierte schließlich noch ein bisschen lustlos Betriebswirtschaft in Eichstätt. Am Ende des Studiums musste er noch einen letzten Kurs belegen, in dem es um "Positive Psychologie" ging. "Also darum, welche seiner Talente für einen Menschen die größte Herausforderung darstellen und ihm zugleich die größte Befriedigung verschaffen."

Im Bild: das Hofbräuzelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

5 / 10

Man kann sagen, dass der Student von Hassel in diesem Kurs viel gelernt hat. Er änderte sein Leben radikal und wurde Fotograf. Was bei den Eltern, vorsichtig ausgedrückt, anfangs eher verhaltene Begeisterung auslöste. Aber von nun an ergab sich eine Kette glücklicher Zufälle. Bei der ersten Ausstellung 2005 in einer Bar sprang er nur ein, um die Wände zu füllen und verkaufte gleich sein erstes Bild.

Das bald folgende Treffen mit einem wichtigen Kunstagenten in Kitzbühel kam nicht zustande, weil die Polizei den Mann kurz zuvor einkassiert hatte. Zu allem Überdruss wurde von Hassel dann auch noch das Auto aus der Parkgarage geklaut. Da stand er nun mit seiner Mappe und den Arbeiten in der Hotellobby. Eine Bekannte kam zufällig vorbei, stellte ihn einem Berliner Galeristen vor. Der meinte, er könne sich die Mappe ja mal ansehen. So kam es zur ersten Einzelausstellung, bei der ein Sammler gleich alle 38 Bilder auf einmal kaufte.

Im Bild: das Marstall-Zelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

6 / 10

Michael von Hassel kann eine Menge solcher Anekdoten erzählen. Etwa die von Olaf Otto Becker. Der berühmte Fotokünstler fotografiert seit Jahren im ewigen Eis, vor allem sterbende Gletscher; seine Bilder leben von Weiß- und Grauschattierungen. Hassel fotografierte damals ausschließlich in Schwarz-weiß, aber Becker kam in seine Ausstellung und sagte: "Du machst es dir schon sehr einfach, indem du die Farbe weglässt." Von Hassel war perplex: "Ausgerechnet von Becker kommt so etwas!" Aber seitdem fotografiert er in Farbe.

Und das höchst erfolgreich. Schon 2009 gab es in Basel für ihn den "Hot Art Award" als besten zeitgenössischen Künstler, und mit der Galerie Camera Work in Berlin ist er bei einer der angeseheneren Fotogalerien Deutschlands. Auch hat er ein Gespür für die Mechanismen des Kunstmarkts, seine Kontakte in verschiedenste Gesellschaftsbereiche sind auch nicht verkehrt. Wie man an der aktuellen Ausstellung in der Rathausgalerie, die an diesem Freitagabend eröffnet wird, sehen kann.

Im Bild: das Armbrustschützenzelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

7 / 10

Zu den Bildern im Format 1,25 mal zwei Meter kam es, weil Michael von Hassel für den Wiesnwirt Christian Schottenhamel einmal dessen Zelt im vollen Betrieb fotografierte - ein Blick in die tobende Menge. Das Bild hat Schottenhamel heute in seiner Wohnung hängen.

Hassel fand, dass es auch schön wäre, das Zelt nachts zu fotografieren, ohne einen einzigen Menschen. "Kein Problem", sagte Schottenhamel, "mit dem Einlassband, das ich dir gegeben habe, kommst du immer rein."

Im Bild: das Schottenhamel-Festzelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

8 / 10

So entstand also das neue Projekt. Michael von Hassel sprach bei jedem einzelnen Wirt vor, bekam seinen Zugangsausweis und war dann zwei Jahre lang jeweils nachts zwischen drei und fünf Uhr auf der Wiesn. "Ich musste ja immer warten, bis der Putztrupp einmal durchs Zelt gekärchert hatte", sagt er und grinst, "da sieht es ja dann entsprechend aus." Trotzdem ist auch danach nicht immer alles perfekt.

Im Löwenbräuzelt fand er es gar nicht gut fürs Foto, dass die Bänke auf den Tischen standen. Also stellte er sie eigenhändig wieder nach unten. Was bei rund 5800 Plätzen ganz schön dauert, wenn man ohne Assistent arbeitet. Aber er lernte bei den Fototerminen auch interessante Menschen kennen. "Ein Hausmeister schrieb nachts Gedichte, ein anderer öffnete mir das Zelt mit einem Reclamheftchen in der Hand. Er erzählte mir, dass er bei jedem Oktoberfest einen anderen Philosophen studiert, diesmal war es Adorno. Der weiß sicher um einiges mehr von ihm als ich."

Im Bild: das Löwenbräu-Zelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

9 / 10

Dafür macht Michael von Hassel aber bessere Fotos von Bierzelten. In der Rathausgalerie sind nun 16 zu sehen (zwei zeigen das Schottenhamel-Zelt, sowohl das alte Hippodrom als auch das neue Marstallzelt sind dabei - macht zusammen 16). Und wer noch weitere Arbeiten kennenlernen will, der möge das Modehaus Hirmer in der Kaufingerstraße aufsuchen. Dort gibt es derzeit neben 16 Fotoarbeiten mit Waldbildern aus seiner Reihe "Timberland" in den Schaufenstern auch eine Videoinstallation über fünf Stockwerke zu sehen.

Im Bild: das Käferzelt

Oktoberfest

Quelle: Michael von Hassel

10 / 10

Michael von Hassel könnte diesmal jedenfalls tagsüber auf die Wiesn gehen - auch wenn er es mit Menschenmassen gar nicht so hat. Es reiche ihm der Trubel, sagt er, den ihm die geschäftliche Seite seines Künstlerberufs so abverlangt. "Ich weiß schon", sagt er, "dass man bei Vernissagen halt eine bunte Hose anziehen und die Micky Maus machen muss.

Man geht viel essen, mit Sammlern und Galeristen, man ist oft in Gesellschaft. Da tut es mir dann wieder gut, wenn ich allein unterwegs bin, um Fotos zu machen." Kürzlich war er in Sibirien und Polen, an die 10 000 Kilometer hat er zurückgelegt. Allein, wie immer. Im November geht es dann nach Asien, wieder in Wälder, die faszinieren ihn von jeher. Sie sind eben ganz anders als Bierzelte: Bei ihnen muss er sich nichts wegdenken, um an ihre volle Essenz zu gelangen.

Im Bild: das Weinzelt

© SZ.de/sekr
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: