Oktoberfest:Wenn die Wiesn-Liebe einen zweiten Anlauf braucht

Oktoberfest 2017  - Costume and Riflemen's Procession

Man freut sich das ganze Jahr auf die nächste Wiesn - und dann kommt erstmal nur eines auf: Melancholie.

(Foto: Getty Images)

Heiligabend-Syndrom könnte man das Phänomen nennen - wenn man sich ein ganzes Jahr auf ein Event freut und der Funke nicht gleich überspringt.

Kolumne von Laura Kaufmann

Der Tag ist da, auf den einer so lange hin gefiebert hat. Der Moment, der sehnlichst erwartet wurde. Und man fühlt: nichts. Steht wie neben seinem Körper, distanziert statt aufgelöst in der freudigen Masse.

Es ist ein Phänomen, das manche Menschen etwa am ersten Wiesnsamstag befällt. Morgens aufgestanden, in die beste Tracht gekleidet, die der Kleiderschrank hergibt. Einen Tisch ergattert, und dann: gewartet. Auf den Anstich. Aber als es soweit ist und die ersten Bierkrüge aneinander knallen, befällt den eigentlich so vorfreudigen Menschen kein Glücksgefühl.

Nennen wir es das Heiligabend-Syndrom. Zum ersten Mal begegnet dieses Phänomen vielen Menschen in ihrer Kindheit. Angenommen, sie wuchsen in einem Haushalt auf, in dem Weihnachten gefeiert wird: Dann haben sie den Adventskalender Türchen für Türchen geöffnet, Plätzchen gebacken, Weihnachtsgeschichten gehört. Einen ganzen Monat lang, der sich in der Kindheit zu einer wohligen Ewigkeit ausdehnt. Und dann ist der große Abend endlich da. Das Christkind hat sein Glöckchen geläutet, die Tür zum geschmückten Baum öffnet sich, darunter die Geschenke.

Manchmal überkommt da schon den kleinen Menschen das Gefühl: Jetzt ist dieser Moment plötzlich hier, und noch einmal schlafen, dann ist Weihnachten schon wieder vorbei. Ein Anflug von Melancholie.

Der kleine Mensch überkommt dieses Gefühl dank überwiegender Freude gleich. Später, wenn die Zeit schneller verfliegt, wird der Druck größer, das herbeigesehnte Ereignis sofort zu genießen. Und verspürt man einmal diesen Druck, genießt es sich nicht mehr so leicht.

Man beobachtet dieses Phänomen in seiner extremsten Form auf Hochzeiten, wo das Brautpaar, oder zumindest eine Hälfte davon, nicht so ausgelassen glücklich wirkt, wie man es ihm wünschen würde. Monatelange Vorbereitungen, um den schönsten Tag des Lebens zu zelebrieren. Und dann wächst ein unglaublicher Eiterpickel auf der Stirn, hat das sonst so brave Baby die ganze Nacht durchgeschrien und es regnet in Strömen.

Den Wiesn liebenden Münchner befällt schon Wochen vorher eine kindliche Vorfreude. Und dann kann es sein, dass das erste Prosit der Gemütlichkeit durch den Raum hallt, und er nichts von der Euphorie spürt, die die Menschen um ihn erfasst. Er fühlt das Besondere nicht, gehört nicht dazu. Fragt sich, ob er das Fest vielleicht nicht mehr so liebt, wie er es einmal tat. Das Gegröle ist zu laut, die Musik sowieso schlecht. Als der Regen aufhört und der vom Heiligabend-Syndrom Befallene einen Spaziergang zu den Fahrgeschäften unternimmt, blendet das Licht auf eine absurd grelle Weise. Vielleicht verlässt ihn dieses distanzierte Gefühl den ganzen Tag nicht.

Aber wie es mit der Liebe manchmal ist, genügt etwas Abstand. Ein Tag Pause. Ein neuer Versuch. Vielleicht scheint die Sonne, und das Bier schmeckt auf einmal viel besser. Und plötzlich breitet sich ein Lächeln im Gesicht aus. Da ist sie wieder, die Wiesnliebe.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: