Oktoberfest:Weltbürger in Tracht

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Ein Paar in Tracht auf dem Oktoberfest in München. (Foto: dpa)

Wer das Oktoberfest nur als Versammlung enthemmter Bierdimpfln sieht, der liegt falsch.

Kommentar von Christian Mayer

Wieder einmal konnte man es in dieser Woche erleben, dieses besondere Münchner Lebensgefühl, die Neigung zu Theatralik und öffentlicher Selbstdarstellung, auch die Vorfreude auf ein Großereignis, das mit der Macht einer Naturgewalt die Leute mitreißt. Schon in den Tagen vor der Eröffnung des Oktoberfests war dieses Gefühl überall in der Stadt greifbar. Man musste nur einmal, als unvermeidbares Präludium zum Bierzeltbesuch, eines der grotesk überfüllten Trachtengeschäfte besuchen, um sich zu vergewissern, dass München eben doch eine Weltstadt ist.

Japanerinnen und Chinesinnen reißen sich da um die letzten Dirndl-Blusen, Männer aus Schweden, Italien, Indien, Australien und Brasilien präsentieren sich vor dem Spiegel als frisch drapierte Bilderbuchbayern, in Lederhosen und Trachtensocken, die jeder Wade schmeicheln.

"In der alpenländischen Folklore findet man viele Anregungen. Sie ist kühn, exzentrisch und betont die Persönlichkeit": Der Satz, der wie ein maßloses Selbstlob eines Mia-san-Mia-Bayern klingt, stammt vom französischen Modemacher Jean Paul Gaultier, der am Mittwoch in München seine spektakuläre Werkschau eröffnete und sich dabei als Liebhaber der Lederhose outete. In der Stadt, die gerne russische Stardirigenten, katalanische Meistertrainer und nigerianische Großkuratoren mit New Yorker Akzent engagiert, ist man immer ganz aus dem Häuschen, wenn man solche Komplimente entgegennehmen darf; es schmeichelt dem ohnehin stark ausgeprägten Selbstwertgefühl der Bewohner.

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Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, was man nur hoffen kann, dann wird auch dieses Oktoberfest so sein, wie in den Jahren zuvor: eine enorm populäre Touristenattraktion, eine gigantische Dirndl-Show, ein dreistes Geschäft, ein fröhliches Besäufnis und eine Art Teufelsrad, das sich nach 16 Tagen Dauerbeschleunigung zum Glück selbst wieder abstellt.

Selbst Wiesn-Skeptiker müssen einräumen, dass es trotz der Massen und des Massenkonsums relativ friedlich bleibt, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Wer das Oktoberfest nur als Versammlung enthemmter Bierdimpfln sieht, liegt falsch: Die Wiesn bezieht einen großen Teil ihres Charmes aus der Tatsache, dass sie längst keine Nationalitäten mehr kennt und dass sich jeder heimisch fühlen darf: Weltbürger in Tracht.

Alles wie immer also in München, das sich auf den goldenen Herbst freut? Alles nur Folklore, Rausch, Exzentrik, wie beim Bayern-Edelfan Jean Paul Gaultier? Nein, natürlich nicht, schließlich liegt die Theresienwiese nur fünfzehn Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, jenem Ort, an dem nun schon seit Wochen täglich Tausende Flüchtlinge ankommen - Menschen auf der Suche nach einem besseren, friedlichen Leben, die ganz andere Sorgen haben als die Befürchtung, nicht rechtzeitig ins Bierzelt zu kommen. Ob es ein einmaliges Ereignis bleibt, dass sich der Flüchtlingsstrom mit dem Strom der Wiesn-Hedonisten mischt, weiß noch keiner.

Mit einiger Sicherheit wird die Stadt München aber auch mit diesem doppelten Ausnahmezustand fertig werden; sie kann erneut zeigen, dass sie eine wahrhaft weltoffene, moderne Stadt ist, die sich einen leicht anarchischen Zug bewahrt hat, aber nicht im Chaos versinkt.

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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