Oktoberfest:Sie kommen in Frieden, sie wollen nur unser Bier!

Zwei Männer prosten sich auf dem Oktoberfest in München zu.

Das rege Plaudern, Schunkeln und Anstoßen auf dem Oktoberfest hat eine befreiende Wirkung auf das Sozialverhalten des Münchners.

(Foto: dpa)

Der Münchner gilt nicht gerade als Freund von spontanen Annäherungen durch Fremde. Auf der Wiesn ist jedoch alles anders - und Verbrüderung nurmehr eine Sache von drei Prosit-der-Gemütlichkeit.

Glosse von Laura Kaufmann

Etwa 50 Wochen im Jahr legt der Münchner Fremden gegenüber eine skeptische Haltung an den Tag. Nähert sich ein Passant auf der Straße und sieht den Einheimischen an, ist es beinahe schon ein Glücksfall, dass dieser nicht sofort die Arme über den Kopf reißt und "Was wollen Sie von mir?" brüllt, sondern nach einem Moment der Irritation doch die Frage nach der Uhrzeit oder nach dem Weg zur Alten Pinakothek beantwortet.

In öffentlichen Verkehrsmitteln rüstet sich der Münchner mit verkniffenem Gesicht gegen spontane Annäherungen. Als technische Hilfsmittel dienen ihm Kopfhörer und Smartphone. Kontakt zu unbekannten Menschen hat er nicht gern, wenn es sich vermeiden lässt; es fordert ihm ein spontanes Reaktionsvermögen ab, dass ihm vielleicht urbangenetisch nicht gegeben ist.

Reist der Münchner nämlich nach Berlin, Köln oder gar in den Süden, schwärmt er danach beseelt von der Offenheit der Menschen. Wie einfach man dort auf der Straße, im Späti oder in der Kneipe ins Gespräch gekommen sei, ganz anders als daheim! Es kann also keine Abneigung sein, eher ein Unvermögen, welches den Münchner in der Kommunikation hemmt.

Auch dem Zweck der gesellschaftlichen Konfrontationstherapie dient es also, dass die Stadt für gute zwei Wochen im Jahr mit so vielen Besuchern geflutet wird, wie gerade noch hineinpassen. Sie kommen aus Australien und Japan, aus England und Italien und kleiden sich bavariaesk ein, was, ähnlich wie das Schwenken einer weißen Flagge, signalisiert: Ich komme in Frieden, ich will nur euer Bier!

Es folgt die erste Mass. Und plötzlich ist dem Münchner, als sei er in dieser Fantasiewelt Oktoberfest, mit Festzelten, die ihrer ganz eigenen Logik folgen, in seiner Tracht, mit der er sich für diese Welt zurechtmacht, selbst auf einer Abenteuer-Trip, und jeder Mitreisende ein Freund.

Als waschechter Eingeborener schlägt ihm von seinen Sitznachbarn gleich Bewunderung entgegen, die Verbrüderung ist nurmehr eine Sache von drei Prosit-der-Gemütlichkeit. Nach dem regen Plaudern, Schunkeln und Anstoßen mit koreanischen Erasmusstudenten, dem hessischen Junggesellenabschied und dem amerikanischen Ehepaar ist der Münchner beseelt wie nach einem Urlaub. Auf sein Sozialverhalten hat die Wiesn eine befreiende Wirkung.

Bis die Theresienwiesenkonfrontationstherapie wieder abgebaut wird, der Alltag seinen Lauf nimmt - und sich unvorhergesehen ein Passant auf der Straße nach der Uhrzeit erkundigt.

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