Süddeutsche Zeitung

Familientag auf dem Oktoberfest:Wenn erschöpfte Elternherzen überschwappen

Wer mit seinem kleinen Kind zum ersten Mal auf die Wiesn geht, stöhnt über teure Fahrgeschäfte und verschmierte Dirndl - und erlebt doch jede Menge Glücksgefühle, die man bisher nur aus dem Bierzelt kannte.

Von Laura Kaufmann

Erster Akt: Ankunft

Im Leben eines Wiesnbesuchers gibt es immer ein erstes Mal. Und ein Münchner Kindl mit Eltern, die gern aufs Oktoberfest gehen, hat dieses Erlebnis meist schon in sehr jungem Alter. Seine Augen weiten sich mit jedem Schritt auf die Festwiese: Hier blinkt es! Hier leuchtet es! Hier glitzert es! Das da dreht sich, und hier spielt wieder andere Musik! Die Augen der Eltern weiten sich auch. Mit Blick auf die Preistafeln der Kinderkarussells. Sie erleben die Wiesn, die sie in früheren Jahren eher vom Biergarten und Zeltinneren heraus erlebt haben, aus einer völlig neuen Perspektive.

Zweiter Akt: Adrenalinrausch

Das ist doch nichts für so Kleine, sagt Mama. Ich fahre doch mit, sagt Papa. Baby Freefall tauft Mama das Fahrgeschäft um, so hoch steigen die Ballonkabinen in den Himmel. Die Tochter wirkt recht unberührt von ihrem Höhenflug, als sie aus der wieder gelandeten Kabine klettert. Vielleicht gefällt ihr das Kinderkarussell besser. Eine Fahrt drei Euro, steht an einem Kassenhäuschen, aber die Tochter ist noch sehr klein. Kann man darauf vertrauen, dass sie brav im Feuerwehrauto bleibt, und nicht zwischendurch heraus spaziert und von der Drehscheibe fällt? Eltern kleinerer Kinder, allesamt nebenberuflich Katastrophenverhinderer, kennen die Antwort. Mama oder Papa kauern also neben dem Auto, und meist verdoppelt sich so der Fahrpreis.

Aber was sind schon sechs Euro und leichter Schwindel gegen das strahlende Gesicht des Nachwuchses? Na also. Nur, halt. Der Nachwuchs lächelt nicht! Mit stoischem Gesichtsausdruck starrt er durch die Frontscheibe, während das Karussell blinkt und Mama oder Papa nebendran engagiert "Brumm, brumm! Huuuup huuup! Tröööt!" machend den Spaßfaktor zu heben versuchen. Wie sehr es gefallen hat im Karussell, wird erst deutlich, wenn am Ende alle kleinen Fingerchen des heftig kopfschüttelnden Kindes einzeln vom Lenkrad gelöst werden müssen und die Eltern schließlich ein herzzerreißend schluchzendes Rotzbündel wegtragen.

Sie sind noch nicht abgebrüht, was Karusselltränen angeht. Und zwischendurch gibt es schließlich schon anderen Unmut, weil das Kind auch gerne Autoscooter oder Breakdance gefahren wäre. Die Eltern werden weich. Auf zum nächsten Kinderkarussell. Und noch eine Runde. Noch eine!

Dritter Akt: Innere Achterbahn

Das Schluchzen der Eltern ist innerlich. Es meldet sich beim Blick in den Geldbeutel und lässt sich zwischendurch gut verdrängen. Früher kippte man gegen diese plötzliche Geldbeutel-Leere auf der Wiesn schnell etwas mehr Bier runter, das half. Mit Kind funktioniert es, wie es immer mit Kind funktioniert: Irgendwann lacht es, und das wärmt innerlich in etwa den selben Bereich wie das schnell heruntergeschüttete Bier, nur viel gesünder.

Was noch hilft: dienstags auf die Wiesn! Da ist Kindertag, da locken Ermäßigungen. Sie haben einen kleinen Adrenalinjunkie an der Hand? Gehen Sie direkt durch zur Oidn Wiesn! Die vier Euro Eintritt haben sich durch den Preis von nur einem Euro pro Fahrgeschäft schnell amortisiert. Lernen Sie aus den Fehlern Anderer. Außerdem sind die alten Vintage-Karussells für den Elternteil, der geduckt in einem Miniaturfahrzeug hockt, immerhin adrett anzuschauen. In einem kleinen Bus mit echten Ledersitzen kauert es sich gleich würdevoller als in einem pinken Barbie-Mobil.

Vierter Akt: Alles wie immer

Mit einem Kleinkind über die Wiesn zu ziehen, ist etwas ganz, ganz anderes als zusammen mit Freunden. Und doch sind die Ähnlichkeiten bestechend. Der Gang! Fröhlich in fremde Leute torkelnd, immer dem nächsten Reiz hinterher. Den Nachwuchs auf dem Oktoberfest zu beaufsichtigen, ist nicht viel anders, als eine volltrunkene Begleitung nach Zeltschluss nach Hause zu bringen. Das Kleinkind ist nur süßer dabei.

Ohnehin ist die ganze Zeltgaudi darauf ausgerichtet, erwachsene Menschen wieder in einen Kleinkind-ähnlichen Zustand zu bringen. Das Bier versetzt ganz in den Moment, in dem Kinder ohnehin leben, und mit steigendem Konsum sinkt das Koordinationsniveau der Extremitäten. Da wird dann mit leuchtenden Augen so wild euphorisch auf den Bänken zum knallroten Gummiboot getrampelt und geklatscht, dass objektiv betrachtet nur wenig Unterschied zur Kindergartengruppe besteht. Es ist also nur folgerichtig, gleich mit dem Kleinkind loszuziehen, anstatt sich selbst mühsam in einen ähnlichen Zustand zu trinken.

Fünfter Akt: Sauerei

Essen Kleinkinder nun wie Volltrunkene oder Volltrunkene wie Kleinkinder? Es landet teils im Mund. Teils auf der Tracht. An den Händen. Am Boden. Der erste Schokofrüchtespieß, das klang wie eine süße Idee, bis das Mini-Dirndl braune Flecken hatte und die Klamotten der Eltern dazu. Und der Hunger war, trotz Schoko, plötzlich doch nicht so groß. Ciao, weitere 5,50 Euro! Dafür ist erstaunlich viel Zeltessen sehr kinderfreundlich. Es könnte zum Beispiel sein, dass von den Käsespätzle gar nicht allzu viel übrig bleibt für die Erwachsenen. Die dürfen ihren Hunger mit der ausnahmsweise verschmähten Brezn stillen.

Letzter Akt: Endorphinrausch

Im Biergarten dann macht sich endlich das lange "Prost"-Training am heimischen Esstisch bezahlt: Reihenweise schmelzen die Gäste dahin, wenn der strahlende Zwerg seinen Trinkbecher schwenkend die Reihen abklappert. Die erschöpften Elternherzen schwappen ein wenig über wie eine gut eingeschenkte Mass in der Hand der Bedienung. Denn natürlich ist der eigene Nachwuchs der niedlichste, der jemals zum ersten Mal über die Wiesn getrappelt ist. Und wenn andere diese Ansicht auch nur scheinbar für eine Millisekunde teilen, ist das in etwa das gleiche Glücksgefühl wie das warm-wohlige Kribbeln nach einer Dreiviertel-Mass.

Jetzt aber heim mit dem reizüberfluteten Zwerg. Und vielleicht, vielleicht doch noch einen Solo-Abend auf der Festwiese planen.

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