Süddeutsche Zeitung

München 2018:Wo man fliegt, da lass dich nieder

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Das Kettenkarussell wird unterschätzt - dabei ist es das beste Wiesn-Fahrgeschäft. Und das ehrlichste. Wer Kettenkarussell fährt, dem kann man vertrauen.

Kolumne von Elisa Britzelmeier

Die Wiesn ist ein verlogenes Fest. Langweilige Büromenschen verkleiden sich als lustige Dorfbewohner, aus 0,9 Litern Bier wird eine Mass, und aus einem Huhn gehen schon mal drei halbe Hendl raus. Auf einer Bühne wird mit Enthauptungen geworben, obwohl nie ein Tropfen Blut fließt; Dirndl machen Dekolletés, wo sonst nichts ist; im Magenbrot ist kein Magen, in der Zuckerwatte keine Watte und im Leberkas' weder Leber noch Käse.

Darum ist es ein Glück, dass es das Kettenkarussell gibt. In einem ganzen Haufen von Möchtegerns ist das Kettenkarussell das einzig ehrliche Fahrgeschäft. Manche mögen das ehrliche Kettenkarussell auch Kettenflieger nennen. Aber selbst dann bleibt das Fliegen im Kettenkarussell ein Fliegen an Ketten. Während die "Wilde Maus" eine Kante vorgaukelt, wo keine kommt, während der "Free Fall Tower" den freien Fall behauptet, wo keiner ist, während man darauf hinweisen muss, dass es mit dem "Rund um den Tegernsee" nicht einmal bis nach Holzkirchen geht - da fährt das Kettenkarussell einfach nur im Kreis. Und allen ist jederzeit klar, dass es nur im Kreis geht.

Die Fahrt des Kettenkarussells ist durchschaubar. Es überrumpelt einen nicht mit unerwarteten Wendungen, es macht jederzeit klar, dass der Flug nur eine Illusion ist. Man kommt dem Gefühl von Fliegen nah, aber es bleibt ein Traum. Und welcher Traum ist schon älter und stärker als der vom Fliegen? Man muss sich nur mal anschauen, wie oft der Mythos von Ikarus wiedererzählt worden ist, in Gedichten, Gemälden, Songtexten. Dagegen war in Kunst und Literatur das Durchgeschütteltwerden, Überkopfhängen und RuckartigumdieeigeneAchsedrehen wie oft Thema? Eben.

Jedes Jahr gibt die Fahrgeschäfteindustrie haufenweise Geld für die Entwicklung neuer Fahrgeschäftesensationsinnovationen aus, aber eigentlich könnte sie damit auch aufhören, denn besser als das Kettenkarussell wird's nicht. Es kommt vielleicht einmal im Wellenflug daher, vielleicht als hohe Version auf 80 Metern. Das war's mit der Aufregung. Und damit hat das Kettenkarussell begriffen, wie das Leben nun mal ist.

Auf Fotos sieht höchstens das Riesenrad ähnlich gut aus (das ist nicht nur in Instagram-Zeiten wichtig). Wo wir schon beim Riesenrad sind: Auf dem hohen Kettenkarussell kann man ähnlich gut die Stadt überblicken - ganz ohne sich rentnermäßig fühlen zu müssen. Noch dazu läuft hier oft weniger nervige Musik als im Topspin oder Breakdance. Und die Fliehkraft ist nun mal die schönste aller Kräfte.

Kettenkarussell-Nähe ist ein guter Gradmesser, um frische Wiesnbekanntschaften einstufen zu können. Wer dem bescheidenen Kettenkarussell keine Beachtung schenkt, ist bestimmt auch sonst ein ignoranter Grobian. Wer dagegen mit Vorliebe Kettenkarussell fährt, dem kann man uneingeschränkt vertrauen. Es ist wie in dem Volkslied: Wo man fliegt, da lass dich nieder, böse Menschen mögen keine Kettenflieger.

Schlägt jemand eine späte Runde Toboggan vor, obacht! Da will sich einer lustig machen. Autoscooter lässt auf eine gewisse Rambo-Mentalität schließen. Wer die Krinoline wählt, will nur gemütlich nah aufrücken (und der Rentnerverdacht liegt nah). Wenn aber jemand ins Kettenkarussell einlädt, darf man nicht nein sagen. Ganz nebenbei: Wer Kettenkarussell fährt, kauft meist auch gebrannte Mandeln.

Wenn nun jemand sagt, dass es bei der Wiesn nun mal um das Verlogene, um die Flucht vor der Realität geht? Der setze sich eine Weile ins Kettenkarussell. Es wird seine kritischen Einwände davonwehen.

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