Oktoberfest:Fast alles, was man auf der Wiesn tun kann, ist ungesund

Normalerweise ist München eine reibungslos funktionierende Stadt. Niemand streikt, alle gehen arbeiten und nur bei Grün über die Ampel, die Isar plätschert friedlich hindurch, die U-Bahnen fahren pünktlich, das Fahrrad ist auch noch da, wo man es ursprünglich abgestellt hat und abends um elf sind alle brav im Bett, weil sie am nächsten Morgen wieder früh raus müssen. Die Wiesn fügt dieser allzu strikten Choreografie ein chaotisches Element hinzu, das der Stadt sonst abgehen würde.

Plötzlich ist der Gehsteig nicht mehr so sauber, dass man fast davon essen kann. Plötzlich ist nachts überall Leben auf den Straßen. Plötzlich sind Halbseidene und Hallodris, Draufgänger und Durchgeknallte, Glücksuchende und Gestrandete auf die halbe Stadt verteilt. Und plötzlich hat man das Gefühl, als sei München nicht bloß eine Großgemeinde östlich von Germering, wie ein geschätzter Kollege mal gelästert hat, sondern eine pulsierende Metropole.

Offene Bühne mit wechselnden Akteuren

Ob Bier trinken, Haxn essen oder Tabak schnupfen - fast alles, was man auf der Wiesn tun kann, ist ungesund. Der Exzess, der im Bierzelt zelebriert wird, ist eine Ode an die Unvernunft und eine Absage an den Selbstoptimierungszwang unserer modernen Gesellschaft. Weil das Oktoberfest so tief in der Kultur verankert ist, liefert es eine willkommene Legitimation für den Müßiggang. Schon okay, heute nicht an der Isar zu joggen oder ins Fitnessstudio zu gehen.

Die Wiesn, dafür wird sie seit jeher gerühmt, ist eine große Gleichmacherin. So ein Biertisch ist eben keine geschlossene Gesellschaft, sondern eine offene Bühne mit wechselnden Akteuren. Schüchternheit, Sprachbarrieren und soziale Unterschiede verschwimmen. Da treten der Hubsi aus Ampermoching und die Rosi aus Köln-Kalk gemeinsam mit dem Min-jun aus Südkorea auf und alle verstehen sich irgendwie, immer in der Schwebe gehalten von regelmäßig wiederkehrenden Trinksprüchen und andauerndem Zuprosten.

Der Exzess macht schließlich die harte, böse Realität besser erträglich. Wer sich fallen lässt, mit der Masse eins wird, die nüchtern-analytische Distanz aufgibt und vollends dem Gefühl erliegt, der ist geschützt vor den Frustrationen des Alltags. Da hilft es, dass die bayerische Landtagswahl seit mehr als 20 Jahren immer um die Wiesn-Zeit stattfindet.

Vielleicht sind das Oktoberfest in München und der Karneval in Köln in mancher Hinsicht vergleichbar. In beiden Fällen wird eine ganze Stadt von Exzess erfasst, in beiden Fällen kostümieren sich die Teilnehmer mit seltsamen Gewändern und in beiden Fällen ist das Feiern ein Ausweis von Außeralltäglichkeit, davon, dass alles auch ganz anders sein könnte, wie es derzeit gehandhabt wird.

Doch während in Köln alle Karnevalisten am Aschermittwoch Buße tun müssen und an ihre Vergänglichkeit erinnert werden, steht der Wiesnbesucher heuer nach 17 Tagen Exzess am 3. Oktober Punkt 22:30 Uhr im Hacker-Zelt, in der einen Hand die brennende Wunderkerze, in der anderen den Masskrug mit dem letzten Noagerl und sagt wie einst Monaco Franze: "Aus is und gar is und schad is, dass's wahr is."

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